Landgericht
Kind riesig erschienen war, und sie war es ja auch mit ihren zweitausend Plätzen. Ein überkuppelter Zentralbau mit vier niedrigen Ecktürmen, eine Rosette prangte über dem Hauptportal. Es war ein pompöser Bau auf einem frei zugänglichen Grundstück, so daß man die Synagoge von allen Seiten betrachten und umrunden konnte. Die Neue Synagoge in Berlin war freilich noch größer, aber die hatte er kaum mehr besucht. (Von der Synagoge in Breslau ist nach ihrer Zerstörung am 9. November 1938 nur der Staketenzaun stehengeblieben, an die opernhaft riesige Synagoge in Berlin-Wilmersdorf erinnert nur eine Gedenktafel, Schrebergärten haben sich mit schlingpflanzenhafter Beharrlichkeit auf ihrem Gelände breit gemacht ohne Gedächtnis.)
Kornitzer schreckte auf, merkwürdig berührt über die Verzögerung, als er an der Reihe war, den Kaddisch für seine Mutter zu beten und Gott zu preisen. Und als er es tat, zitterte seine Stimme. Ja, er hatte verdrängt, daß seine Mutter sterben würde und er Sohnespflichten hatte. Beim Verlassen des Friedhofs wuschen sich alle Gäste die Hände, es war Brauch, sie nicht abzutrocknen und so symbolisch die Erinnerung an die Verstorbene zu behalten. Wäre seine Mutter ein paar Jahre früher gestorben, hätte er die Trauergäste in ein Restaurant eingeladen, nun fürchtete er, die große jüdische Gesellschaft würde anecken oder gar kein Restaurant finden, das sie bewirten würde. Und einer solchen Schmähung wollte er die Gäste und sich selbst nicht aussetzen. So fuhren sie in kleinen Gruppen in die leere Wohnung am Kurfürstendamm, eine Nachbarin hob die Augenbrauen, schnaubte die Nase über die lästige Störung, als sie ankamen. Sie kondolierte nicht, obwohl Kornitzer sie lange vom Sehen kannte. Sie hatte einen kalten Blick wie: Wir sehen uns noch. Und Kornitzer ahnte, sie hatte schon auf dieses und jenes Stück aus dem Nachlaß ein scharfes Auge geworfen.
Nun tat die Gesellschaft doch etwas, was gar nicht geplant war, sie saß
Schiwa
, wie es der Brauch war, ein Brauch, der sich umstülpte und in sein Gegenteil verkehrte.
Schiwa
hieß die siebentägige Trauerperiode, die dem Begräbnis folgte, für die jetzt kein Mensch mehr Zeit und Nerven hatte. Trauernde sollten in dieser Zeit zuhause bleiben und keine Arbeit verrichten. Es wurde auch erwartet, daß sie auf niedrigen Schemeln saßen, keine ledernen Schuhe trugen, als wäre jeder Aufbruch von Übel, aber man sollte auch auf das Rasieren, Baden, Schminken, Haareschneiden und den Geschlechtsverkehr verzichten, so war es vorgegeben, so sollte es wieder erneuert werden aus dem alten Bund, der herüberragte in die Bedrängnis. Der Verzicht auf körperliche Hygiene war in einer weitläufigen Ku’damm-Wohnung mit Heizung und heißem Wasser sinnlos, aber der Verzicht auf das Sprechen über das Zukünftige, das Notwendige wäre lebensbedrohlich geworden, und so wurden nicht nur die Routen der Freunde und Verwandten, die zum Begräbnis nicht mehr anwesend sein konnten, diskutiert, sondern auch die Hoffnungen und Befürchtungen der Zurückgebliebenen. Die beiden Vettern aus Frankfurt, das war nach ihrem Auftritt in der Synagoge fast selbstverständlich, waren nicht mehr mit zu der kleinen Abschiedsfeier gekommen, vielleicht waren sie schon im Aufbruch, vielleicht waren sie in der großen Stadt untergetaucht, suchten auf eigene Faust Möglichkeiten, besonders schlaue Bedingungen, Konsulate, die andere längst abgeklappert hatten – umsonst. Es war ein hektisches Schnattern in den verschatteten Räumen mit den schweren Möbeln und Vorhängen, die Claire und Richard Kornitzer bald leerräumen mußten, eine Systematik des Ausatmens, des Abbaus der Zimmer und der eigenen Befindlichkeit. Wohin, wie weiter?, geflüsterte Adressen und hinausposaunte Meinungen über Verordnungen und Maßnahmen. Man sprach kaum mehr über die Tote, die Sorgen der Lebenden standen im Vordergrund. Was sprach für das Auswandern, was für das Bleiben?
Das Ordnen des Nachlasses war eine übergroße Pflicht, die in die Phase hineinreichte, in der das eigene Leben in Sicherheit gebracht werden mußte und in der die Pflicht an Bedeutung verlor, vielleicht sogar jede Bedeutung konterkarierte zu einer papierenen Vernünftigkeit, aus der niemand sich mehr verabschieden konnte. Kornitzer erbte. Und er erbte nicht zu knapp, Geld, ein Grundstück in Schmargendorf, ein Aktienpaket, Gegenstände, für die er einen Platz finden mußte, wenn er sich nicht von ihnen trennte. Das
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