Landgericht
artverwandten Blutes sind verboten. Trotzdem geschlossene Ehen sind nichtig
. Im Paragraph 3 stand:
Juden dürfen weibliche Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes unter 45 Jahren in ihrem Haushalt nicht beschäftigen
. Die Paragraphen waren Keulenschläge, unter denen sich die Kornitzers duckten. Es klingt so, sagte Claire, als würde ein Jude jede jüngere Frau mit Küchenschürze sofort anfallen. Bin ich der Arbeitgeber des Mädchens oder du?, zweifelte Kornitzer, doch es half nichts, Cilly mußte entlassen werden. Aber Sie waren doch mit mir immer zufrieden?, fragte sie in aller Unschuld. Ja, sie waren zufrieden, aber Hitler war unzufrieden mit einem jüdischen Arbeitgeber, Cilly verlor ihre Stelle, am letzten Arbeitstag brachte sie einen Strauß Astern mit. Ich weiß ja, Sie können nichts dafür, Frau Kornitzer. Es war ein Sprechen in Unterlassungen, in Auslassungen. Georg weinte nicht, als er sich von Cilly verabschiedete. Er kannte noch kein „nie wieder“. In den nächsten Tag saß er apathisch herum, er hatte nun verstanden, daß Cilly nicht mehr kam, aber warum, warum?
Selma schrie, schrie und ließ sich nicht beruhigen, vielleicht weil sie die Unruhe und Nervosität um sich herum spürte. (Eine Projektionsfläche ihrer Eltern?) Mit wieviel Ruhe hatte Claire sich Georg gewidmet, wenn er gestillt wurde, wie schuldbewußt war sie gewesen, wenn sie seinen Schnupfen, sein aufkommendes Fieber übersehen hatte. Das kleine Mädchen in der Wiege gedieh, aber ganz nebenbei, die Sorgen wuchsen, und es wuchs auch. Sein dunkles Schöpfchen stand zu Berge. Das zweite Kind wehrte sich durch Vitalität gegen die Entwertung. Es stimmte ja, was Richard gesagt hatte: Georg war nie mehr allein. Aber er schlief auch schlecht, wachte auf, wenn Selma wie am Spieß schrie und nicht mit Kamillentee oder einem väterlichen Finger, an dem sich lutschen ließ, zufriedengestellt werden konnte. Selma war auch nie allein, nie hatte sie die ungeteilte Aufmerksamkeit, die der zarte Georg auf sich gezogen hatte. Und wenn Claire, erschöpft vom Schreien des Kindes, abends zu Richard sagte: Ich könnte auch schreien vor Wut und Verzweiflung, erzählte ihr Richard: Wenn ich meinen Kollegen in der Glühlampenfabrik zuhöre, reden sie von Fußball-Ergebnissen, vom Rennfahrer Rudolf Caracciola und von Boxkämpfen in einer Mischung von Apathie und Vergnügungssucht. Sofort nach Feierabend und in den Pausen geht es in die Kantinen und Kneipen. Man besäuft sich, macht Krach, und wenn Radiomeldungen kommen, wollen die Kollegen von all dem nichts wissen, lieber grölen sie: Wir versaufen unserer Oma ihr klein Häuschen. Es ist eine Stimmung verzweifelter Gleichgültigkeit, Gebrüll, Gekreisch, Rohheit, eine verschwitzte Kameraderie in den wilhelminischen Ziegelkathedralen der Arbeit. Das ist die Volksgemeinschaft, zu der ich nicht gehöre. Ich muß die Zähne zusammenbeißen.
Der Aufprall
Das Jahr 1938 beginnt mit einem Schock: Kornitzers Mutter stirbt. Nicht daß Kornitzer gedacht hat, seine Mutter werde ewig leben, aber er hat ihre Klagen nie ganz ernst genommen: daß sie doch eine alte Frau sei und müde der Kämpfe, daß sie todmüde sei (er hat dieses Wort nicht wirklich zu sich dringen lassen). Wenn er sie mit sich selbst verglich (wenn das überhaupt möglich war), so hatte sie doch eine gesicherte Existenz. Die Klagen waren einfach an ihm abgeprallt. Und wenn er sie besucht hat in der kalten Pracht der großen Ku’damm-Wohnung mit den Wandschränken, Winkeln und Abseiten, amüsiert er sich auch leise über die unnachahmlich damenhafte Art, wie sie ihm eine Flasche schwarzen Johannisbeersaft entgegenhält: Bitte öffne sie, ich bin zu schwach. Er hat rasch durchschaut, wie taktisch (auch originell) sie ihre Hilflosigkeit einsetzt. Einmal gibt sie ihm Glühbirnen in die Hand, die er, auf einem wackligen Stuhl balancierend, in ein blasses Seidenschirm-Wandlämpchen einschrauben muß, und gleichzeitig muß er viel Staub wegpusten. Ein anderes Mal zeigt sie ihm einen tropfenden Wasserhahn, der nach einer Dichtung verlangt. Er fühlt sich gleichzeitig unter- und überfordert von diesen kleinen Hausmeistertätigkeiten, die eine Unterlage für ein Gespräch zwischen Mutter und Sohn sein könnten, aber dazu kommt es nicht. Und während er hier und dort an den Gewinden herumschraubt, klagt sie: Was soll denn werden? Was soll denn werden? Und sie beschwört Kornitzers im Weltkrieg gefallenen Vater, ihren zweiten, an einer Embolie
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