Landgericht
und barocken Bürgerhäuser um den Markt, das machtvolle spätgotische Rathaus mit seinem reichen Figurenschmuck, das Schachbrett der Gassen in der Altstadt, die Dominsel mit den beiden Hauptkirchen der Stadt, der Kreuzkirche und dem Dom und der fürstbischöflichen Residenz, die nur noch Insel hieß, aber keine mehr war – ein Nebenarm der Oder war zugeschüttet worden –, an die Sandinsel, an die Kastanienkerzen am Ufer des trägen Flusses, das gewaltige Dunkel der Elisabethkirche und die Promenaden auf dem Ring des Stadtgrabens. Ihm kam auch die enge Krullgasse, die Hurenstraße mit dem phantasierten Geruch nach Sperma und dem wirklichen Geruch nach Urin, der den neugierigen Schülern in die Nase stieg, in den Sinn. (Diesen Gedanken schickte er schnell wieder weg.) Er dachte an die riesige Jahrhunderthalle, die gebaut wurde, als er zehn Jahre war, ein Staunen über die Gewaltsamkeit des Aufbruchs kurz vor dem Weltkrieg, das sich in Berlin dann zwangsläufig wieder verlor. Damals wollte er Architekt werden, ein Wunsch, der verblaßte mit der Zeit und der ihm wieder vollkommen vernünftig schien für den Jungen, der er gewesen war, in der Zeit, in der er Claire kennenlernte mit ihrer Begeisterung für die zeitgenössische Architektur. (Natürlich war sein Interesse eher durch das Baumeisterhafte erweckt worden, durch die Schichtung von Steinen, weniger durch den Plan, durch eine Struktur. Ein Kind bildet sich das Generalstabmäßige nur ein, es erfindet die Dramatik des Eingreifens, es erwartet nicht die Zähigkeit, die die Voraussetzung des Gelingens ist. Es kann die Niederlagen auf der mittleren Strecke nicht einschätzen. Das Gelingen ist märchenhaft. Das tagträumende Kind steht in der Mittelachse des Gelingens.)
Zum Begräbnis kamen Verwandte, an die er sich nur mühsam erinnern konnte. Und andere, die er gewiß erwartet hatte, fehlten, sie waren in alle Himmelsrichtungen emigriert. Und er spürte so etwas wie ein inneres Schulterklopfen, naja, du hast eine
arische
Frau. Und er merkte, wie Claire sich neben ihm versteifte, wie ungern sie eine solche Bemerkung hörte. Und er murmelte: Ich arbeite in einer Glühbirnenfabrik, wie lange das noch geht, weiß niemand, und wir haben zwei kleine Kinder. Er sah zwei Trauergäste, die ihm ganz grotesk erschienen. Sie drehten die Kippa links und rechts herum und wußten nicht wirklich, wie und wann sie sie aufsetzen sollten, bis sie sich irgendwie entschlossen, dabei halfen sie sich gegenseitig. In der Synagoge gingen sie auf die falsche Seite, auf die Seite, die den Frauen zustand, man scheuchte, man komplimentierte sie weg, und umständlich mußten sie, als sie den Fehler endlich gemerkt hatten, auf die rechte Seite rücken. Richard Kornitzer fühlt einen gewissen Zorn, sind jetzt schon Spitzel bei einem jüdischen Begräbnis?, aber ein naher Verwandter flüstert ihm zu: Es sind Söhne des jüngsten Bruders deines Vaters, Namen, Namen, die ihm nichts sagen, und sie leben in Frankfurt am Main. Hast du sie nie kennengelernt? Nein, er kennt sie nicht, erinnert sich aber an den fernen Onkel mit dem Rabengesicht. Sie drücken dann beide jeweils rote Taschentücher vor ihr Gesicht. (Warum? Kennen sie die Tote besser, als Kornitzer denken kann? Haben sie sie jemals vermißt? Jetzt? Wann? Jetzt oder nie?) Also ein rotes Taschentuch in der Doppelung, linkshändig oder rechtshändig zwillingshaft, und sie beginnen zu schluchzen. Ist das lächerlich? Der eine Trauergast wird derart geschüttelt von der Bewegung des Körpers und des Gemütes, daß er nach kurzer Zeit die Trauergemeinde verlassen muß. Und auch der andere schluchzt, ständig sich schneuzend, in sein rotes Tuch, störend, ja vollkommen übertrieben. Und dann, in einem kurzen Gespräch beim Verlassen der Synagoge, entschuldigen sich beide wie aus einem Mund, daß sie gelacht hätten während der Feier, der hebräische Singsang, die geliehenen Gebetskappen, der auf einem Wägelchen mit Gummirädern aufgebahrte Sarg, all das habe sie so aufgeregt, all das sei ihnen derart komisch vorgekommen, daß sie nicht mehr hätten an sich halten können. Und dann hätten sie eben so gelacht als ob sie weinten. Kornitzer stellte sich das Gesicht seiner Mutter vor, wenn sie eine solche Mitteilung jemals empfangen hätte, das befremdete Gesicht, und dann stellte er sich gar nichts mehr vor.
Als der Rabbiner die Trauerrede hielt, war Kornitzer im Kopf immer noch in Breslau, er dachte an die Neue Synagoge in Breslau, die ihm als
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