Landgericht
Unbehagen bei dem Verlust spürte, daß er nicht aufhörte, bis zum Ende seiner Tage nach dem verlorenen Koffer zu suchen. Und sicher hätte Kornitzer sich dem Mann mit dem Lumpenkoffer näher gefühlt.
Die Ankündigung überraschte Claire, band sie beide enger aneinander. Es war keine Vorsicht, der Verfolgung in der Verkleidung zu entkommen. Es war ein Versuch, noch mehr Nähe herzustellen, wo Nähe bestand. Kornitzers Nähe zu seiner Frau, das war wenig genug, aber doch viel. Sie gingen schon lange nicht mehr ins Universum. Das Kino als ein Ort der Illusion war tot, totgebrüllt, es gab keine Illusionen mehr, es gab den Aufprall der Wirklichkeit und die Wirklichkeit, die geprobt und in den Blickwinkel gerückt wurde. Sie hieß: Heldenhaftigkeit. Vorbereitung für das große Kommende, das ein Entsetzen war. Ein ganzes Volk mußte eingeschworen werden auf einen harten Blick, auch auf einen Blick auf Verluste, Verzicht, da spielte das Kino seine treuhänderische Rolle, und die Werbung hielt stand. Die Wochenschauen brachten Bilder aus dem spanischen Bürgerkrieg, kriegslüsterne, kriegsgesättigte Bilder, auf denen die deutschen Flugzeuge eine glanzvolle Rolle spielten beim Niedermetzeln der Republikaner. Gasmasken wurden auf den Markt geworfen, aufgestülpt und erprobt. Was sollte die Werbung da leisten: Für Gasmasken war nicht zu werben, nirgends, also war nur für einen Zustand zu werben, der die Gasmaskenwerbung hinüberschwindelte in eine Seifenoper-Ambivalenz. Das hätte Claire niemals gekonnt, das hätte sie nie gewollt, sie wollte keine Werbung mehr sehen, und sie wollte keine Filme mehr sehen, die für ein Heldentum warben oder für einen Heroismus, der übrigblieb, wenn das Heldentum an seinen Rand gekommen war und abstürzte. So hatte es sich ergeben, daß sie nicht mehr am Kurfürstendamm herumbummelte, nicht mehr in die Kinos schlüpfte, aber doch ein Stück weiter vom Kurfürstendamm weg am Hochmeisterplatz in die wilhelminische Backsteinkirche mit der großen Vorhalle trat, in den Raum mit den gedrungenen Doppelsäulchen, zum Gesang und Gebet in der Hochmeistergemeinde: Das war ästhetisch vielleicht ein Rückschritt, aber es war gut so. Sie kam gestärkt aus den Gottesdiensten, sang
Ein’ feste Burg ist unser Gott
, und dann nahm sie die Kinder mit in den Gottesdienst. Und nun hatte Richard sich angeschlossen, ohne Zaghaftigkeit. Seit er verfolgt war, verstand er besser das Zusammenscharen unter den Bildnissen, den Statuen des Gekreuzigten, die Religion, die den gemarterten Judenkönig in ihren Mittelpunkt gerückt hatte. (Mehr war dazu nicht zu sagen.) An die Auferstehung dachte er weniger. Es war ein Suchen, ein Finden war nicht unmittelbar vorausgesetzt. Irgendein Vorteil für ihn oder die Kinder war von diesem Übertritt zum Protestantismus nicht zu erwarten, Kornitzer folgte einem Gefühl, begab sich also auf unsicheres Terrain, sein juristisch geschulter Verstand blieb außen vor, wie so häufig in den letzten Jahren. Er war einfach nicht mehr gefragt, obwohl Kornitzer ihn nicht abmelden konnte. Kornitzer hatte den Runderlaß des Reichsinnenministeriums vom 4. Oktober 1934 zur Taufe von Juden durchaus zur Kenntnis genommen, er hatte die Nachricht ausgeschnitten, ordentlich mit dem Datum beschriftet und in seine Schreibtischschublade gelegt.
Der Übertritt zum Christentum verändert den Status nicht
. Eine grundlose Treue zu einer Sache konnte verschiedene Formen annehmen, erst im nachhinein sähe man, ob sich hinter der Untreue eine geheime, besonders beharrlich verstrickte Treue verbarg oder umgekehrt hinter der Treue die Untreue hervorschimmerte. Es war wie mit dem Koffer: Erst wenn die Möglichkeit bestand, ihn zu öffnen, würde sich finden, ob darin lauter alter Lumpen geknüllt wären oder etwas, das sich aufzuheben lohnte. Und wenn es nur eine Hoffnung wäre. Aber vielleicht war kein Koffer verlorengegangen, würde kein Koffer verlorengehen, und das ganze Bild war schief, unzutreffend, mußte ausradiert werden. Und doch: Der Besuch der Hochmeisterkirche an der Seite seiner großen Frau, das Singen,
Ein’ feste Burg ist unser Gott,/ ein’ gute Wehr und Waffen./ Er hilft uns frei aus aller Not,/ die uns jetzt hat betroffen
, erleichterte ihn, erleuchtete ihn, beglückte ihn auch. Es war eine Sicherheit in der Tonfolge, eine Sicherheit in der Geschichte gab es nicht. Als assimilierter Jude war er allein, zu Tode assimiliert, in einer schönen tragischen Sackgasse, in der wollte er nicht
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