Landgericht
steckenbleiben. Aber war denn Religion zufällig oder austauschbar? Neutralisierte die Taufe, machte der Religionswechsel zu einem Sowohl-als-auch? Flucht und Verwandlung, eine Umwertung der Zugehörigkeit. Daß seine Taufe auch als ein Verrat an den jüdischen Glaubensgenossen gesehen werden konnte, kam ihm nicht in den Sinn.
Die Produktwerbung im Radio war im Jahr 1936 verboten worden. Und die Drohung schwebte im Raum, daß auch die Werbung im Kino verboten würde. Jetzt kam es darauf an, ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, nicht mehr den einzelnen möglichen Kunden zu umwerben. Neben eindeutigen NS-Inhalten hieß die Direktive, den Stolz auf den gemeinschaftlichen Wohlstand (oder die zukünftige Partizipation an ihm) herauszuarbeiten. Dazu war Claire Kornitzer nicht die richtige Person, ihr Wohlstand sank, ihre Firma hatte Sorgen. Was sie nicht einschätzen konnte, was niemand einschätzen konnte, war die erforderliche Überführung ihrer glanzvoll gestarteten Firma in die Reichsfilmkammer. Da die Kinowerbung als ein Teil der Kultur angesehen wurde, da die Kultur massenhaft organisiert und kontrolliert werden mußte, wurden die Kulturschaffenden in die Reichskulturkammer mit all ihren Unterabteilungen getrieben: wie eine Schafherde, wie die Wirtschaft im gleichen Maße kujoniert und zusammengestaucht wurde. Gleichschaltung. Die Bürokratie, die Lenkung nahm zu, man konnte hinhalten, sich darunter hinwegducken, auf Zeit spielen, Briefe unbeantwortet lassen. Ohne Mitgliedschaft in der Reichsfilmkammer war eine Führungsaufgabe in der Filmwirtschaft unmöglich. Um Mitglied in der Reichsfilmkammer zu werden, mußte Claire einen Antrag stellen. Das tat sie, widerwillig zwar. Umgehend wurde sie aufgefordert, innerhalb von vier Wochen ihren arischen Abstammungsnachweis für sich und, da sie verheiratet war, auch für ihren Ehemann beizubringen. Das konnte sie nicht, wieder Zeitverzug, Fristenverlängerung und dann die Gewißheit: Keine Mitgliedschaft in der Reichsfilmkammer, keine neuen Aufträge, die Kosten blieben erhalten, Schulden blieben stehen, die Firma krepelte, und schließlich bekam sie in ihrem Büro Besuch von zwei Herren, die sie einmal in der Konkurrenz abgehängt hatte. Sie schlugen ihr ohne viel Federlesens vor, die Prowerb zu übernehmen. Wie kamen sie dazu? Es war kein Vorschlag, es war eine Drohung. Es war keine Drohung, es war eine Erpressung: Wenn Sie diesen Vertrag nicht unterschreiben, wird es die Prowerb nicht mehr geben. Nicht unter Ihrer Geschäftsführung, nicht unter anderer. Sie wollen doch Ihre Firma nicht zugrunde gehen lassen. Sie haben doch Verantwortung. Und diese Verantwortung gehört in Hände, die der neuen Zeit gewachsen sind. Und sie fuchtelten mit ihren verantwortungsbewußten Händen vor ihrer Nase, fuchtelten über ihren Schreibtisch, nahmen mit Blicken schon alles in Besitz. Claire bat sich Bedenkzeit aus, redete sich heraus, aber es gab keine Bedenkzeit. Es war kriminell, sie wußte es, die beiden, die sie bedrängten, taten, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, sich kriminell zu verhalten, einer Frau mit einem jüdischen Ehemann die Firma abzuluchsen, man mußte nur breitspurig und dreist daherkommen. Den Vertrag zu unterschreiben, war eine Farce. Ebenso gut hätte einer der beiden ihre Unterschrift fälschen können. Als Claire mit weichen Knien zu einer ungewöhnlich frühen Zeit nach Hause in die Cicerostraße kam, hielt ihr Georg vorwurfsvoll sein Feuerwehrauto entgegen. Ein Rad war abgefallen. Kannst du es wieder heile machen?, fragte er. Nein, das konnte sie nicht. In kürzester Zeit war die Prowerb liquidiert, aus dem Handelsregister gelöscht.
Die Kinder sehen, daß Autos den Kurfürstendamm entlangflitzen, daß sie halten, daß vier, fünf Männer herausstürzen mit vorgehaltener Pistole, daß sie zurückkommen mit einem in ihrer Mitte, einem Opfer, das sie gejagt haben, das sie erlegen werden, warum und wieso, das ist nicht klar. Die Willkür ist deutlich und das versteinerte Gesicht, die Todesblässe des Mannes, den sie abtransportieren irgendwohin, wo es keine Fragen zu stellen gibt. Georg fragt aufmerksam und mit gleichbleibender Kinderneugier: Was machen die Männer mit dem Mann? Und man muß, um das Kind nicht noch mehr zu erschrecken, antworten: Sie führen ihn ab. Ihn, ein Gespenst, dessen frühere Existenz auszulöschen sie die Macht haben, auf Nimmerwiedersehen, wie sie jede Macht haben, auch die der Auslöschung.
Kornitzer möchte
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