Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
Vom Netzwerk:
streiten müssen). Aber Kornitzer war nicht nach Streiten zumute, mit Goldenberg schon überhaupt nicht, er hätte den kürzeren gezogen. Sie waren von Vedado den Malecón entlangspaziert, bis zum Torreón de San Lázaro, einem wehrhaften Turm aus dem 16. Jahrhundert. Er war rund und glatt und alt, er erinnerte sie irgendwie an Europa. Am Meer wehte immer ein Wind, der hob einem die Schultern, als könne man doch eines Tages fliegen, über die glatte, blaue Fläche des Meeres, die kein Ende hatte.
    Wenn Kornitzer alleine spazieren ging, grüßte er das Türmchen, hielt sich so nah wie möglich an der Kaimauer, sehnsüchtig, daß die aufspritzenden Tropfen ihn trafen und kühlten. Wenn er stramm ging, brauchte er genau 25 Minuten bis zum Castillo de San Salvador de la Punta, der alten Festung gegen die Pirateneinfälle. Betrat man den Malecón am Nachmittag und wandte sich nach Osten, hatte man die Sonne im Rücken, und wenn man Glück hatte, wehte einem die Brise ins Gesicht. Die Küste war geschwungen, so hatte die Brise die Chance, den Spaziergänger einmal an der Schulter, einmal im Haar zu streifen. Das war eine schöne Unterhaltung.
    An anderen Tagen gingen Goldenberg und Kornitzer miteinander unter den Kolonnaden spazieren. Junge Frauen saßen im Schatten und drehten sich gegenseitig die Haare auf die Papprollen aus dem Inneren von Klopapierrollen. Damen lüfteten in aller Unschuld ihre milbenbehafteten Bettdecken, schüttelten den Staub, die Schuppen und die getrockneten Spermareste über ihren Köpfen aus. Aber Kornitzer und Goldenberg räsonierten, parlierten, es gab gute Tage, an denen es fast schön war, das blitzblaue Meer anbranden zu sehen und die Angler an der Hafenpromende Malecón zu beobachten, spindeldürre alte Männer mit einer Engelsgeduld und Jungen, halbwüchsige oder noch ziemlich kleine, die mit breit gespreizten Beinen das Gehabe der alten Männer imitierten, aber dabei einen solchen Liebreiz ausströmten, besonders zwischen den sehnigen Waden und den mageren braungebrannten Kniekehlen, daß man ihnen alles Anglerglück der Welt wünschen mußte.
    Und es gab schreckliche Tage, an denen alles stürmte, davonfliegen wollte, zu stürzen drohte. Die Schaufenster wurden zugenagelt, die Türen verschlossen, der Wind peitschte tief, so daß er einem die Beine wegzog, am liebsten hätte man sich unter die Matratze verkrochen, wenn der Hurrikan kam und Dächer abdeckte und auch die eigene Schädeldecke unberechenbar in Mitleidenschaft zog. Es gab Häuser in der Stadt, die waren mit Ziegeln gedeckt, was ein schöner Wärmeausgleich im Sommer war – zwischen die Ziegel strömte ein wenig Luft, ein kleiner, beschaulicher Strom, der kühlte, erfreute. Doch ein wütender Hurrikan deckte die Ziegeldächer ab, die Straßen waren rote Scherbenhaufen, mühsam mußten danach die Dächer geflickt werden, mit alten, nicht so sehr beschädigten Ziegeln und vielen, allzu vielen teuren neuen. Die Dachdecker kamen nicht nach, und manche Hausbesitzer resignierten, deckten das Dach nicht neu, aus Geldmangel oder weil sie die Lust an dem alten Gebäude verloren hatten und ohnehin in ein modernes Viertel ziehen wollten. Die hohe Luftfeuchtigkeit war ein Feind der Architektur, sie ließ die Eisenträger korrodieren, sie griff das Holz an, auch Türschlösser rosteten im Nu. Irgendwo in Vedado war ein Säulenportikus stehengeblieben, und das Gebäude dahinter, das höchstens 40 Jahre alt gewesen sein konnte, war verschwunden, eingestürzt, es war wie ein Menetekel. Nach uns die Sintflut, nach uns ein weiterer Hurrikan, das war nicht freundlich den Mietern gegenüber. Und so war die Angst vor dem neuen Hurrikan eine existenzielle Angst, als könne man selbst mitfliegen und sich um eine Palme wickeln, nein besser: wie eine Schlingpflanze gewickelt werden. Die Luftwurzeln schaukelten. Und es gab andere Häuser, die mit einem Dach aus gewalzten, aneinandergestückelten Konservendosen belegt waren. Das war nicht schön, es war erbärmlich, der Regen knallte auf das Blech, und die Hitze knallte, aber im Notfall war es eine sichere Sache. Die Dächer wurden nicht abgedeckt, es tropfte, rann, rieselte nur durch die Ritzen zwischen den Blechen.
    Plötzlich geschah etwas zwischen den Emigranten, ein Tuscheln, ein Kichern hinter der vorgehaltenen Hand, es hatte wohl mit den Emigranten aus Antwerpen begonnen, unter denen gelernte Diamantenschleifer waren. Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, seit polnische und russische

Weitere Kostenlose Bücher