Landgericht
Lisa erinnern und Lisa nicht an sie. Es waren so viele, so viele, sagten beide übereinstimmend, tausende von Frauen, zwölftausend. An ihre überaus energische Mitgefangene Hannah Arendt konnte sich Emma Kann erinnern. Weil Emma Kann einen belgischen Staatenlosenpaß hatte und aus Deutschland ausgebürgert worden war, wurde sie freigelassen. Eine Zeitlang lebte sie recht und schlecht im unbesetzten Teil Frankreichs, bis auch das unmöglich wurde. Über Casablanca war sie mit einem Seelenverkäufer nach Kuba gekommen. Hier kam sie als Englischlehrerin unter, privat, ohne Arbeitserlaubnis wie Kornitzer. Immer sah sie besorgt aus, obwohl sie es nicht mehr als andere war, aber in der gleißenden Helligkeit Havannas litten ihre Augen, und beim Lächeln entblößte sie viel Zahnfleisch. Vielleicht sah sie besorgt aus, weil sie Gedichte schrieb. Von den Gedichten sprach sie stolz, aber sie wollte sie nicht zeigen. Vielleicht hatten die anderen Emigranten auch allzu formell gefragt, man nahm Kornitzer und auch Fritz Lamm nicht ab, daß sie sich ernsthaft für Gedichte interessierten. Später vielleicht einmal, wenn alles vorbei war, antwortete sie ausweichend. (Aber wann war alles vorbei, und was war „alles“?) Sie zeigte ihre Neugier, ihre Freude an der Sprache, an der Sinnlichkeit jeder Erfahrung, an der Schönheit der Landschaft, aber damit war kein Staat zu machen. Kurz nach der Entlassung aus Gurs hatte sie ein Gedicht geschrieben, das die betörende Schönheit der kargen Pyrenäen-Landschaft feierte und die Freiheit darin. Es war ein nüchternes, strenges Gedicht, von dem sie kein Aufhebens machte, das sie aber glücklicherweise nie verlor und später veröffentlichte.
Und Kornitzer lernte auch Boris Goldenberg kennen. Er war mit Lisa Ekstein und Hans Fittko befreundet, und somit war auch Kornitzer mit ihm befreundet. Lisa kannte ihn noch von der Sozialistischen Arbeiterjugend in Wilmersdorf, sie hatten gemeinsam in Südfrankreich in einer „Villa“, die in Wirklichkeit eine halbfertige Bauruine mit schwindelerregenden Treppen ohne Geländer war, gehaust, die ein Sympathisant den Flüchtlingen zur Verfügung gestellt hatte. Goldenberg war in Petersburg geboren und 1930 mit einer Arbeit „Beiträge zur Soziologie der deutschen Vorkriegssozialdemokratie“ in Heidelberg promoviert worden. (Kornitzer hatte über ein zivilrechtliches Problem promoviert, ja, das mußte er zugeben und gab es frank und frei zu: er hatte sich damals nicht für Politik interessiert.) Goldenberg dagegen war seit seinem 19. Lebensjahr Mitglied der SPD, zwei Jahre später war er wegen einer Kontaktaufnahme zur KPD aus der Partei ausgeschlossen worden. Folgerichtig wurde er Mitglied der KPD, aber als Anhänger des rechten Parteiflügels um August Thalheimer und Heinrich Brandler auch dort ausgeschlossen, wechselte er zur KPD-Opposition, die eine energische und freiheitliche eigene Politik gegen die Moskau hörige KPD betrieb, und schloß sich 1932 wie Fritz Lamm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands an und schrieb für das Parteiorgan. Im März 1933 wurde Goldenberg verhaftet, gefoltert, nach seiner Freilassung flüchtete er nach Paris, wo er auch der Exilleitung der SAPD angehörte. Ihm gelang es nach einer Ehrenrunde, die verzweifelt machte, die zur Untätigkeit auf Kosten der Hilfsorganisation
Joint
verdammte, als Lehrer in Kuba zu arbeiten, und er war damit zufrieden. Goldenberg war ein Stratege, er wußte, was die kubanischen Gewerkschaften tun und lassen sollten, stundenlang diskutierte er darüber mit Fritz Lamm, und Kornitzer hörte einfach zu. Goldenberg wußte, wie sich die anderen Länder Lateinamerikas im Krieg verhielten und warum und wie sie Deutschland niederwerfen könnten. Er hatte auch hervorragende Vorschläge zur Bekämpfung der Korruption in Kuba. Nur – leider – hörte niemand auf ihn, und das störte ihn nicht besonders. Oder er tat so, als sei er daran gewöhnt. Ja, er hatte sich daran auf kluge Weise gänzlich ohne Resignation gewöhnt. Und trotzdem hatte er recht, und sein Recht würde sich erweisen. Das war jedenfalls Goldenbergs Meinung. Kornitzer war eher an Details interessiert, an sinnvollen Lösungen innerhalb eines gegebenen Rahmens, an Rechtsstaatlichkeit, Individualrechten, Vertragsgestaltungen, nicht an Konstruktionen von Gesellschaft, deren Prämissen utopisch waren (oder abgelebt, tief in der Weimarer Republik wurzelten, so genau konnte man das nicht beurteilen, oder man hätte sich
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