Landgericht
des Lagers, eher in einem Sprechkorridor voller Lärm und Türenschlagen. Und rasch kam die Rede auf einen gemeinsamen Freund, den belgischen Außenminister, vorher Justizminister, Émile Vandervelde, und eine Vertrauenssituation war geschaffen. Der Spanier würde handeln, würde etwas für Deutsch organisieren, alle Hebel in Bewegung setzen, versprach er. Und Kornitzer, der mitorganisierte, war über die Maßen erleichtert. Und dann tauchte, aus welcher Ecke, aus welchem Café, welcher Unterkunft auch immer, noch ein Österreicher auf, Dr. Arnold Eisler, ein ehemaliger Unterstaatssekretär im Justizministerium, den eine Laune oder eher eine Verzweiflung des Schicksals nach Havanna getrieben hatte, und bestätigte alle Angaben. In der größten Zeitung Havannas stand ein Skandalartikel
Europäischer General als Gefangener in Tiscornia
(wer hatte den lanciert?), in ihm hieß es, unbegreiflicherweise werde Julius Deutsch festgehalten, doch immerhin mit dem seinem Rang gebührenden Respekt behandelt, er genieße außerdem eine Reihe von Erleichterungen. Worin die bestehen sollten, war den früheren Häftlingen in Tiscornia schleierhaft. Julius Deutsch wurde in einen kleineren Schlafsaal verlegt, doch nur, weil er einem Wärter ein paar Pesos in die Hand gedrückt hatte. Erst am sechsten Tag seiner Haft erlaubte man ihm – unter Wachbegleitung – aus seinem Gepäck beim Zoll einige Wäschestücke und Toilettenartikel zu holen. Als ein Mann mit Seife und Zahnpasta würde er glühend bewundert werden im Lager und könnte etwas abgeben. Als er noch einige Einkäufe machen wollte, schüttelte der Wachhabende streng den Kopf. Doch eine kleine Gabe machte ihn gefügig, sein Gewissen beruhigte sich zusehends. Allerdings mußte Deutsch danach ein Taxi zurück nach Tiscornia nehmen. Der Fahrer verlangte vier amerikanische Dollar, obwohl ihm für die Fahrt höchstens ein halber Dollar zugestanden hätte, wie Deutsch schätzte. Aber der Begleitsoldat zuckte resigniert die Achseln. Deutsch zahlte und wußte gleichzeitig instinktiv, der Fahrer und sein Begleitsoldat machten halbe-halbe. Im Lager hörte er von einem schon länger Inhaftierten, für die gleiche Fahrt zum Zollamt habe man ihm acht Dollar abgeknöpft.
An einem der nächsten Tage kam ein aufgeregter Aufseher in den Schlafsaal und holte Deutsch ans Telephon der Kanzlei. Deutsch glaubte, das müsse ein Mißverständnis sein. Aber er war wirklich gemeint! Am Telephon meldete sich ein Major Estuvo und stellte sich als Flügeladjutant Seiner Exzellenz des Staatspräsidenten der Republik Kuba vor. Mit ausgesuchten, zierlich gedrechselten Redewendungen begrüßte er ihn und machte ihm die Mitteilung: Das Offizierskorps der kubanischen Armee habe von seinem
Mißgeschick
erfahren, den Offizieren sei es nicht recht, einen
Kameraden
in einer solchen Lage zu wissen. Sie hätten ein
Gesuch
eingereicht
mit dem dringenden Wunsch nach Freilassung seiner Person
. Und der Staatspräsident werde dem Gesuch in kürzester Zeit Folge leisten. Das war alles sehr verwirrend. Doch in der nächsten Nacht schlief Julius Deutsch sehr viel ruhiger auf seinem Strohsack.
Zwei Tage später wurde er in das Immigrationsamt befohlen. Dort wartete auf ihn eine feierliche Zeremonie. Er wurde zwei Vertretern des kubanischen Offizierskorps vorgestellt, Herren mit beeindruckenden Epauletten, pistaziengrünen Ordensbändern und zackigen Schnurrbärten, einem Vertreter der Kanzlei des Staatspräsidenten, auch sehr schön geschmückt wie ein Zirkuspferd, einigen höheren Beamten, deren Funktion er nicht verstand, und schließlich war auch der frühere österreichische Konsul Edgar von Russ anwesend. Señora Gomez, die nunmehrige Chefin des Immigrationsamtes, eine Dame mit Sonnenbrille, großer Perlenkette und großen Füßen, an denen sie makellose Spangenschuhe aus sandfarbenem Wildleder trug, hielt eine formvollendete Rede. Es war wie eine Sprechszene aus einer noch nicht geschriebenen Operette, die um die Jahrhundertwende herum spielte. Der Tribut der Armee. Die Ehre des Staates. Die internationale Solidarität, die sich noch nicht zu ihrer vollen Blüte entfaltet hatte. Señora Gomez drückte ihre Genugtuung darüber aus, daß das Offizierskorps seine Befreiung veranlaßt und daß der Präsident ausnahmsweise auch den Verzicht auf Gebühren angeordnet habe. Diesen Programmpunkt hielten die anwesenden Kubaner offenbar für das Bedeutungsvollste des Gnadenaktes. Und so feierlich wie der Akt begonnen hatte,
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