Landgericht
nah. Mit einer majestätischen Ruhe thronte sie am offenen Bogenfenster des Mezzaningeschosses, über ihrem Kopf, genau in der Mitte, ragte eine senkrecht angebrachte Neonröhre auf. Und es kam Kornitzer manchmal so vor, als rühre sie sich nicht, um diese schöne Symmetrie nicht zu stören. Unter ihr in der Gasse tobten Kinder. Er dachte auch an eine Alte, die im Schutze der Dunkelheit auf der Schwelle des Hauses saß, es sich bequem machte und ungeniert ihr Holzbein abschraubte. Sie legte es neben sich. Überhaupt gab es viele Beinamputierte in Havanna, das fette und zu süße Essen machte zuckerkrank, und es fehlte an einer geeigneten Behandlung. Gemüse war rar und wurde, wenn es welches gab, mit Mißmut und Verachtung angesehen – wie ein Zwangsvitaminstoß. Er dachte an die streunenden gutartigen Hündinnen, die alle Milch in den Zitzen hatten. Aber wo waren ihre Welpen? Hatten sie sie gut versteckt oder hatte man sie ihnen weggenommen, damit es nicht noch mehr streunende Hunde gäbe? Er dachte an den Besenhändler, der sechs, sieben Besen über der Schulter trug und dazu noch Scheuermittel in einem Sack und lauthals zu singen anfing. Und er dachte an die Menschenaufläufe in den Gassen, die Prozessionen mit Trommelwirbeln und Rasseln, ohrenbetäubendem Lärm, so daß Kornitzer immer zuerst eine Demonstration vermutete, aber in der Mitte des Menschenpulks gingen die Musiker, und rundherum bewegten sich Leute im Tanzschritt. Niemand konnte ihm sagen warum, es war eine Demonstration der Lebensfreude, die die sorgenvollen Europäer einfach nicht begriffen. In Kuba war es fast immer laut gewesen.
Er dachte daran, wenn über den neugebauten, glasverkleideten Brückensteg zwischen Landgericht und Gefängnis auf der Höhe des ersten Stockes Untersuchungshäftlinge geführt wurden und diese mit der Vorführung in keiner Weise einverstanden waren, denn sie waren in ihren eigenen Augen alle unschuldig, protestierten, randalierten, und der Wachtmeister, der die qualvolle Aufgabe hatte, sie vorzuführen, war in Wirklichkeit (also in ihren Augen) ein Verbrecher, der ihre Menschenwürde aufs Tiefste verletzte, und der Haftrichter, der die Vorführung angeordnet hatte, vielleicht nur zur Revision, sowieso. Kornitzer war manchmal so irritiert über das Gebrüll, den Aufschrei einer Menschenseele, der aus der Kehle geschwappt war, vergurgelte und keinen geordneten Weg nach draußen fand, daß er grübelte und sich zu erinnern suchte: Immer wenn er in Havanna Rechtsanwalt Santiesteban Cino in ein Gefängnis begleitete – und das war gar nicht oft, denn dem Rechtsanwalt war es lieb, wenn Kornitzer in seiner Abwesenheit die Kanzlei hütete und eine menschliche Würdeform abgab –, schien der Gefangene vollkommen devot, er schien sich in sein Schicksal ergeben zu haben. (War der kubanische Häftling einfach nicht in der Lage gewesen, sich mittels ein paar Scheinchen aus dem Desaster zu befreien? Oder war er nur deshalb im Gefängnis gelandet, weil er den Anschein erweckte, er könne nicht zahlen, was sich während der fortdauernden Haft dann auch bewahrheitete? Es war wie eine Hitzewallung, wenn Kornitzer an Kuba dachte.)
Die Mainzer Untersuchungsgefangenen, die ihn besonders an heißen Sommertagen, an denen die Fenster offenstanden, mit ihrem Geschrei quälten, schienen vollkommen sicher zu sein, daß sie zu Unrecht inhaftiert seien. Und daß nur ihr entschiedener, lautstarker verbaler Protest, auch ihr abendliches Hämmern und Pochen mit dem Besteck auf dem Gitter des Fensters, das die Beamten sofort unterbanden, sie aus der Erniedrigung befreien konnte. Aber wenn Kornitzer wieder ans Fenster trat, sah er auch Szenen, wie er sie am Landgericht in Berlin und auch in Havanna nie gesehen hatte: Frauen, die Kinder an der Hand hielten, zogen vor den Fenstern der Gefängniszellen auf, schrien den Namen eines Gefangenen. Die Kinder jammerten: Papaaa, Papaaa, ein Fensterchen öffnete sich, und eine bleiche, aufgeregte Gestalt zeigte sich, stemmte sich hoch, schrie die Namen der Kinder. Und schrie: Ich liebe euch alle. Es gab ein Winken, Heulen, Taschentuchschwenken zum Gotterbarmen. Der Inhaftierte rief Namen, Telephonnummern, Wünsche, Flüche hinunter auf die Straße, und die Frau und die Kinder klaubten das wenige, das sie verstanden hatten, auf, als wären darin Perlen zu finden. Es war peinigend zuzuhören, zuzusehen – Szenen „aus dem wirklichen Leben“, ohne jede Poesie, nur aus der Härte der Verhältnisse
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