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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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Blubbern, Blasen, die an die Oberfläche eines Wassers steigen. Zuerst Nahrung, Kleidung, Heizung, ein Dach über dem Kopf, dann die Gemütlichkeit, und erst recht spät in der weiteren Reihenfolge: die Erinnerung, die Sehnsucht nach dem Verlorenen. Man konnte die Gedächtnisleistung nicht forcieren, sie verschwand, verblaßte, verwitterte im Lärm der Dampframmen, der Betonmischmaschinen. Die Erinnerung war ein scheues Reh, sie arbeitete nur produktiv, wenn man sie in Ruhe ließ, ihr nicht nachjagte, sie aufstörte. Und wer Photos oder Pläne des zertrümmerten Hauses hatte und es genau so wieder aufbauen wollte, ja, genau so, hatte er es sich geschworen, als es in Trümmern lag, war bald in einem Dilemma. Er erinnerte sich gleichzeitig an die Enge des Einganges, die leere, kalte Pracht der vorderen Zimmer, die kaum genutzt worden waren, an das Unpraktische, Abweisende des alten Hauses, die Zierleisten, die kassettierten Türblätter, die dünkelhaften, tiefen Fensterlaibungen, die Speisekammer, die Abseiten, den Mißmut der Mutter. Sie hatte immer über das unmäßige Staubwischen gestöhnt. (Über die politischen Verhältnisse hatte sie nicht gestöhnt, nicht über die Ohnmacht einer Frau, die doch ein Haus besaß, ein ererbtes Haus, nun ja, die Ohnmacht, die Fassungslosigkeit, das Hergeben der Kinder zu den Flakhelfern, vielleicht hätte man auch die Jungen kurz und knapp krankschreiben lassen können mit einer langwährenden dauernden Blinddarmreizung, bis die Amerikaner kamen: ja/nein, darüber wäre viel zu stöhnen gewesen.) Und kurz darauf war ihr Haus in Schutt und Asche, in mehr als Staub gesunken, und sie selbst sah es nicht mehr mit lebenden Augen. Nein, so wollte man es doch nicht mehr, Neuerungen, Vereinfachungen, billige, praktische Lösungen, abwaschbare, glatte Flächen, Türblätter ohne Widerstand für einen Staubpinsel, keine toten Winkel, und das wäre auch ganz im Sinne der toten, verschütteten Mutter, dachte man, redete es sich selbst schön oder doch zumindest akzeptabel. Und es gab genügend Architekten, die der Schnörkellosigkeit verhaftet waren und nicht zögerten, die Trümmerhaufen mit den Ziegelsteinen, die für sie nicht mehr in Betracht kamen, und die Schneisen, die sich boten, mit Wohlgefallen anzusehen, breitere Straßen, offenere Blicke. Und Betonmauern wuchsen, wuchsen, die Mischmaschinen dröhnten und rumorten, Zimmerleute hoben Balken an mit Hauruck. Kornitzer sah Bauarbeiter in Unterhemden auf den Gerüsten turnen, sie pfiffen den Mädchen nach, die beleidigt den Kopf abwandten, als hörten sie es nicht. Sie warfen in Zeitungspapier eingewickelte Geldstücke herunter und baten Kinder, ihnen Bier zu kaufen, es blieb auch etwas übrig für die Kinder, ein Trinkgeld. Er sah all das kopfschüttelnd und fand sich selbst überempfindlich.
    Richard und Claire Kornitzer, die so früh ein kleines Haus bekommen hatten, wie sie es nicht gewünscht und nicht ausgesucht hätten ohne die Not, endlich ein gemeinsames Leben zu beginnen, ein Haus, das ihres war und doch nicht wirklich ihres, ein Opfer-des-Faschismus-Haus, ein fremdes Haus für die wirklichen Mainzer, sahen das Graben, Mauern, Hämmern, das Begradigen, das Umstürzen von Regeln und Rastern in einer kleinteiligen historischen Stadt und die Wildwestmanieren des hektischen Bauens auf alten Grundstücken, die viel zu eng waren für die Licht-, Luft- und Sonne-Ideen, die ihnen beiden aus der Vorkriegszeit überaus bekannt waren. Und sie schüttelten den Kopf, vermieden, allzu häufig zwischen den Baustellen spazieren zu gehen. Aber die Baustellen waren präpotent, sie dehnten sich, stachen ins Auge, waren wie Magnetfelder für den Blick: Hier beginnt etwas Neues. Vorsicht, Sie können auf Splitter und Glasscherben treten. (Und das Schlimmste wären Blindgänger.) Das war als Warnung akzeptabel.
    1948 war an der Großen Bleiche das erste mehrgeschossige Kaufhaus errichtet worden. Aber erst Ende 1951 waren alle Straßen, Plätze, Bürgersteige der Innenstadt wieder zugänglich geworden. Von den Rändern der Alt- und der Neustadt aus wurden die Trümmer beseitigt. Maulwurfsartig wühlte sich die Trümmerbeseitigung zum Kern der Stadt vor, und ebenso begann der zögerliche Wiederaufbau an den Rändern, nicht in der Stadtmitte, und niemand konnte erklären, warum das so war. Als müßten Fäden zum Belebten, Unzerstörten geknüpft und verknotet werden. Ein einzelnes wiederaufgebautes Gebäude, das auf leere Flächen schaute, schien

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