Landgericht
über ihren Mann zu Protokoll zu geben, als ein Sprachrohr ihres Mannes fungiert (aber in welche Richtung?), ist höchst ungewöhnlich. Wie wirkte das auf Landgerichtsdirektor Haldt? Sein eigener Eindruck ist nicht im Protokoll herauszuspüren, herauszulesen, und auch deshalb muß man sich insgeheim seine Frau, Frau Haldt, wie ein Spiegelbild vorstellen, auf dem Wochenmarkt, auf den Elternabenden in der Schule ihrer Kinder (wozu ihr Mann niemals Zeit hatte), beim Zahnarzt mit den Kindern, all diese Sorgen hatte Claire Kornitzer nicht, nicht mehr. Und warum sie sie nicht mehr hatte, darüber war mit niemandem zu sprechen. Der Schmerz war zu groß, war übergroß, eine riesige, unheilbare Wundfläche, ein unstillbares Schweigen. Davon konnte Landgerichtsdirektor Haldt nichts wissen, aber er dachte beim Schreiben an seine Frau, während er über Claire Kornitzer nachdachte, die er nur flüchtig kannte und die er heute glaubte, kennengelernt zu haben von einer überraschenden, ja befremdlichen Seite. Sie hatte ihn angerufen.
Und so schrieb er in aller Nüchternheit in der Aktennotiz weiter:
Kurze Zeit nachher rief mich Frau Dr. Kornitzer an und erklärte mir, ihr Mann habe sich so außerordentlich aufgeregt, und es habe ihm einen Schock versetzt, daß ihm von Landgerichtsdirektor Brink ausgerichtet worden sei, er solle sich heute Nachmittag zur Vernehmung beim Oberlandesgerichtspräsidenten einfinden
. Landgerichtsdirektor Haldt fuhr dann in seiner Aktennotiz fort:
Ich erklärte Frau Kornitzer, daß es sich hierbei um ein Mißverständnis handele, das durch die telephonische Übermittlung von Koblenz nach Mainz entstanden sein müsse. Es sei nie die Rede davon gewesen, Dr. Kornitzer heute nach Koblenz zu dem Herrn Oberlandesgerichtspräsidenten zu bestellen, er solle lediglich durch mich hierin Mainz zu den Vorfällen in der gestrigen Sitzung der 1. Zivilkammer gehört werden. Frau Kornitzer
, so schrieb er,
bedauerte dieses Mißverständnis
(tat sie das wirklich?),
fügte aber hinzu, ihr Mann sei jetzt in einem solchen seelischen Zustande, daß er sich weder heute noch morgen einer persönlichen Vernehmung unterziehen könne. Er habe auch, wie gewöhnlich samstags, nicht die Absicht, im Gerichtsgebäude zu erscheinen
. (Heiligte er doch den Sabbat, oder war ihm der Samstag als ein verhandlungsfreier Tag auch für Studien im Gericht nicht dienlich?)
Auf meine Frage, ob das eine förmliche Krankmeldung sein solle und ob und wann ihr Gatte bereit sei, sich vernehmen zu lassen, antwortete sie, das könne sie nicht sagen, sie wiederhole aber im Interesse und im Auftrag ihres Mannes die Bitte, ihn schriftlich zu der Angelegenheit zu hören. Sie bat mich ferner, wenn ich von meinen heutigen Ermittlungen berichte, schon jetzt darauf hinzuweisen, daß der Artikel in der heutigen Nummer der „Freiheit“: „Niemand darf benachteiligt werden …“ von ihrem Manne weder beeinflußt noch bestellt sei und daß er mit der Verlesung des Grundgesetzartikels durch ihren Mann in der Sitzung nichts zu tun habe
. (Das ist eine Zeugenaussage, die eher schon einer anwaltlichen Einlassung entspricht. Hat Rechtsanwalt Westenberger mitgewirkt? Oder hat Claire Kornitzer, als ihr Mann nach Hause kam und endlich, endlich stockend erzählt hatte, was vorgefallen war, für welchen Aufruhr er gesorgt hat, den Rechtsanwalt um Vermittlung gebeten? Laß mich mal machen.) Für Landgerichtsdirektor Haldt sieht es so aus, als verstecke sich Kornitzer hinter dem Rücken seiner Frau, hinter ihrer Verhandlungsbereitschaft. Mit anderen Worten: Es sah lächerlich und peinlich aus. Und so muß er sich zurücknehmen, zu seiner amtlichen, juristisch begründeten Fassung als Vorgesetzter zurückfinden, und er schreibt in der Aktennotiz weiter:
Auf meine Frage, ob ein Zusammenhang zwischen der Verlesung des Grundgesetzes und der Anwesenheit des Presseberichterstatters bestehe, antwortete mir Frau Kornitzer, daß der Berichterstatter lediglich in die Sitzung gekommen sei, weil er sich für einen schon längere Zeit schwebenden Prozeß der Stadt Mainz gegen Leichtstoffwerke interessiert habe
.
Und er unterzeichnete schwungvoll, aber auch seine Unterschrift wird wie die von Landgerichtsdirektor Zeh von Buchstabe zu Buchstabe kleiner und ängstlicher, als blähte sich der Titel und unter dem Titel das Ego und unter dem Ego die Brust lebhaft auf, und es gibt keinen Halt mehr, ja, mit diesem Bewußtsein des Uferlosen, Seichten, Schlüpfrigen schrieb er seine Namen.
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