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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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Wohnung kam, lief der Plattenspieler, und während Claire bügelte, hörte sie die Bach-Kantate 147, hörte sie mit allen Sinnen, und er spürte, auch das Bügeleisen rutschte leichter über den Baumwollstoff, als der Sopran sich erhob.
    Jedoch dein Mund und dein verstockt Gemüte
Verschweigt, verleugnet solche Güte;
Doch wisse, daß dich nach der Schrift
Ein allzu scharfes Urteil trifft!
    Beim zweiten Rezitativ bat er seine Frau, den Plattenspieler abzustellen, warum, hätte er selbst nicht sagen können. Claire tat es, sie hörte gleichzeitig abrupt mit dem Bügeln auf, als sei die eine Tätigkeit mit der anderen unmittelbar verknüpft. Und er zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, setzte sich an den Tisch, tat gar nichts, sah sich beim Nichtstun zu, wie er seiner Frau beim Bügeln zugesehen hatte, nur das Ergebnis war ein vollkommen anderes. Seine Frau hatte er gesehen, gespürt, sich selbst sah, spürte er nicht. Er war abgeschnitten von sich.
    Und dann, nach vier Tagen, an die sich Kornitzer nicht wirklich erinnerte, Nebeltagen, Telephontagen, Schreibtagen, entschloß er sich unter dem Druck des Telephongespräches, ja auch unter dem Zeitdruck bis zum nächsten Morgen um 10 Uhr, an seinen unmittelbaren Vorgesetzten, den Landgerichtsdirektor Haldt, zu schreiben, und er schrieb sorgsam, da sein Schreiben unmittelbar an den Justizminister weitergeleitet werden mußte. Die Dienstwege, die Wasserwege, die Schiffahrtswege, den Rhein hinauf und den Rhein hinab. Wenn er sich vorstellte, auf welchen Wegen er (endlich!) Landgerichtsrat und dann Landgerichtsdirektor geworden war, schwindelte ihn. Er war wiedergekommen, ja, nicht nur, weil Claire ihn „angefordert“ hatte bei der Hilfsorganisation, wie der Terminus technicus hieß; er selbst hatte es so gewollt. Ein neues demokratisches Deutschland, ein Glück, vorbereitet und geschenkt von den Befreiern, so sah er das, ein Glück, zu dem er seinen Beitrag leisten wollte. Und nun fühlte er sich allein mit diesem Blick, furchtbar alleingelassen. Aber ein solcher Angstanfall, eine solche Beklemmung war seiner Sache nicht dienlich, er mußte weiter, weitergehen.
    „An Herrn Landgerichtsdirektor Haldt. Mainz, Landgericht“ adressierte er seinen Brief und fuhr fort:
    „Ihrem Wunsch entsprechend gebe ich folgende Erklärung ab: Ich habe zu Beginn der Sitzung vom 20. September d. J. gesagt, daß ich mich persönlich bei der Wiederaufnahme der Gerichtstätigkeit nach den Ferien für verpflichtet halte, die Artikel 3, Abs. III und Artikel 97, Abs. I des Grundgesetzes wie folgt vorzulesen:
    Art. 3, Abs. III. Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.
    Art. 97, Abs. I. Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.
    Die Verlesung erfolgte ohne jede Bezugnahme auf Vorkommnisse, ohne sonstige Worte, ohne Kommentar, Kritik oder dergl., und nur in meinem eigenen Namen. Danach sagte ich noch kurz, daß ich privat eine Konferenz mit Herren der Presse abhalten und dazu – auch Anwälte – einladen würde. Ich nannte weder Zeit noch Themen. Ich bin“, schrieb Kornitzer weiter, „der Überzeugung, daß dem vorstehend geschilderten kurzen Vorgang – zumal beim Arbeitsbeginn nach den Ferien und da ich dem Dienstalter nach der älteste Landgerichtsdirektor des Landgerichts Mainz bin – nichts Ungewöhnliches anhaftet. Es erfolgte keinerlei Bezugnahme oder Hinweis auf Pressenotizen. Der Zweck deckte sich mit dem Inhalt der Artikel des Grundgesetzes selbst. Kritik an irgendwelchen Maßnahmen einer Behörde wurde in keiner Weise zum Ausdrucke gebracht oder auch nur angedeutet. Wenn ich nach meinen Gedanken und inneren Vorstellungen dabei gefragt werde, so bin ich überfordert.“ Eben das verwundert bei einem Menschen, der Außerordentliches leistet, der sich aufrichtet in der geschlossenen Zivilkammer des Gerichts.
    „Vornehmlich hatte mein Gewissen ganz allgemein die Pflicht des Richters zur Wahrung und Pflege demokratischer Justiz und die Treue zur freiheitlichen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes vor Augen.
    Über den Zeitpunkt und den Inhalt meiner Besprechung mit den Herren der Presse und Anwaltschaft habe ich noch keine Entschlüsse gefaßt. Die Besprechung wird privatim und voraussichtlich in meiner Wohnung stattfinden.“ (Eine Pressekonferenz in einem Privathaus? In Mombach? Für

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