Landgericht
Rheinland ein Happening genannt hätte, wenn ein Professor einer Kunstakademie etwas Ähnliches getan hätte. Alles war eben erst geschehen, und es war, als wäre es nicht geschehen, als hätte es nie, nie geschehen dürfen, aber wie sollte es weitergehen, wenn der aufrührerische Akt doch geschehen war? Alles kam darauf an, eine Kontinuität zu erzeugen, die Zeugen zu befragen, den Schaden zu begrenzen. Und es kam darauf an, aus einem Akt eine Akte zu fabrizieren, die an das Ministerium der Justiz gesandt werden könnte, sogleich am 21. September, und die Akte wurde durch den im Briefkopf firmierenden Oberlandesgerichtspräsidenten Walther übersandt, von Mainz nach Koblenz und zurück nach Mainz. Das ist der Dienstweg, er ist mit Ängsten gepflastert, nur nichts falsch machen, handeln und das Verhandelte dokumentieren. Nur nicht stolpern, nicht ausrutschen auf dem glatten Dienstweg. Man muß sich verdient machen als Beamter. Aus einem Akt wird eine Akte, aus einem Handelnden ein Täter. (Opfer?) Es ist eine systematische Arbeit der Zermalmung der Erinnerungsfähigkeit, ein Anschwellen des Papierberges, mit dem die verschiedensten Personen befaßt waren. Das Gericht ist kein Ort der Offenbarung, nicht einmal der Offenlegung, ja, eigentlich ist es ein heißer Ofen, in dem Delikte, Strukturen, Zuständigkeiten gebacken werden. Alles pressierte, der Vorfall, die Tat mußte sorgsam präpariert werden, alle Fingerzeige, alle Fingerabdrücke, alle Denkbewegungen und Bewegungen des Zweifels waren von Bedeutung, und nun war alles Papier, alles im dienstlichen Auftrag des Herrn Oberlandesgerichtspräsidenten vom 21. 9. 56. Wer schießt so schnell? Wer will so schnell eine Sache vom Tisch haben? Oder brennt es vielleicht schon, wenn man zwei Artikel des Grundgesetzes auf ihm ausbreitet?
Während Landgerichtsdirektor Haldt noch den Landgerichtsdirektor Hartmann vernahm, kam ein Anruf eines Anwaltes, mit dem Kornitzer gerne zusammenarbeitete. Er hatte ihm geholfen, seine „Sache“, so sagten Juristen ja, seine Sache mit dem Land Rheinland-Pfalz zu klären, sein Dienstalter, seine Ansprüche, die ihm erwachsen waren seit der Entlassung aus dem Beamtenverhältnis, seine verlorengegangene Zeit und die verspäteten Ernennungen, das war alles gelungen, darüber gab es keinen Zweifel, und so war Westenberger ein naher Mensch geblieben, obwohl sich Richter und Rechtsanwälte nur selten befreunden. (Distanz tat gut.) Aber Westenberger hatte Kornitzers Sache beherzt weitergetrieben, bis zu ihrem guten Abschluß. Es war ja empfindlich genug gewesen, neu beamtet als Landgerichtsrat gegen seinen Arbeitgeber klagen zu müssen, nicht weil der Arbeitgeber ihm ein einziges Haar gekrümmt hatte (oder doch – oder Schlimmeres?), sondern weil der Arbeitgeber die Rechtsnachfolge seines vormaligen Peinigers, des Deutschen Reiches in seiner Gestalt als Drittes Reich, angetreten hatte. Westenberger berichtete Landgerichtsdirektor Haldt, daß Kornitzer augenblicklich und auch vermutlich am morgigen Tag in einer solchen Verfassung sei, daß der Arzt ihm jede Aufregung verbiete. (Also hatte Kornitzer nach der Kammersitzung seinen Arzt aufgesucht?) Er sei jedenfalls nicht in der Lage, sich zu der neuen Angelegenheit vernehmen zu lassen, schrieb Westenberger. (Hatte Kornitzer sich schon zu früheren vernehmen lassen müssen? In welchen Angelegenheiten? Und wenn es solche gab, warum waren sie nicht dokumentiert?) Im übrigen bat Westenberger doch darum, Kornitzer schriftlich zu hören, um ihm die Aufregung (auch die Demütigung!) einer persönlichen Vernehmung zu ersparen. Landgerichtsdirektor Haldt legte in seiner Aktennotiz noch einmal dar, er habe den Anwalt befragt, ob sich Dr. Kornitzer damit krank melden wolle oder ob und wann er glaube, sich vernehmungsfähig zu fühlen. Haldt vermerkte:
Rechtsanwalt Westenberger versprach nach nochmaliger Rücksprache mit Dr. Kornitzer, mich noch einmal anzurufen. Kurz darauf erfolgte auch dieser Anruf, und Rechtsanwalt Westenberger teilte mir mit, über den Zeitpunkt, wann Dr. Kornitzer wieder einer Vernehmung sich gewachsen fühle, könne er nichts sagen. Jedenfalls sei er weder heute noch morgen hierzu imstande
.
Und dann nimmt die Aktennotiz, die Haldt an das Justizministerium schickte, eine überraschende Wendung, wird privat oder halb privat. Mütter melden in Schulen ihre Kinder krank, aber daß die Frau eines Landgerichtsdirektors den Vorgesetzten ihres Mannes anruft, um sehr empfindliche Nachrichten
Weitere Kostenlose Bücher