Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
Vom Netzwerk:
wen? Eine sonderbare Konstruktion.) Und er fügte hinzu: „Selbstverständlich werde ich meine Pflichten als Staatsbürger und als Richter dabei nicht verletzen.
    Weitere Erklärungen habe ich nicht abzugeben.
    Mit vorzüglicher kollegialer Hochachtung!
    Dr. Richard Kornitzer LG. Direktor“
    Äußere Verwirrung und innere Ordnung, die eine äußere Ordnung werden muß. Nach Kornitzers Auffassung regiert die Kälte. Er ist Teil der Kälte, aber er friert nicht, geht mechanisch in sein Dienstzimmer, er grüßt mechanisch die Landgerichtsdirektoren, die Gerichtsräte, die Assessoren, die Referendare, er sieht geradeaus, sein Gesicht bleibt unbewegt, er rückt die Brille zurecht, aber sie sitzt schon genau am richtigen Platz, keinen Millimeter zu tief oder zu hoch auf der Nasenwurzel. Es ist nicht die Brille, die er zurechtrückt, es ist die Ordnung der Welt, die er nicht zurechtrücken kann. Es ist das Gesetz, auf dem er bestehen muß. Er ist ein Teil des Gesetzes, das andere bedenkenlos beiseite schieben, und so fühlt er sich auch beiseite geschoben, übergangen, gefangen in seiner Vorstellung vom Gesetz, von Grund auf verletzt. Nein, am Anfang war die Tat nicht.

Rechnungen, Brechungen
    Etwas bewegte sich, kam ins Rutschen, es war, wie wenn ein großer Papierstapel, dessen Seiten noch unpaginiert sind, vom Sofa heruntergleitet und sich auf dem Weg zum Fußboden auffächert, mühsam muß man die Blätter wieder zusammenfügen, den passenden Übergang finden, und gleichzeitig ist man ungehalten über den Vorfall und möchte alles auf einen Haufen werfen oder vernichten. Aber in diesem Fall handelte es sich ja nur um Papier, in Kornitzers Fall ging es um die Wirklichkeit, seine Karriere, sein Leben, seine Existenz. Kornitzer spürte das Gleiten, wenn er das Landgericht betrat, und gleichzeitig wehte ihm etwas wie Gegenwind entgegen. Er hielt Dr. Funk, dem Grundbuchrichter, der inzwischen nicht mehr im hölzernen Selbstfahrer saß, sondern in einem blitzblanken Rollstuhl, die Tür auf. Und Dr. Funk tat so, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Der Rollstuhlbesitzer rollt heran, er ist eine anerkannte Institution, man sieht ihm den Schaden von weitem an. Er rollt, er räuspert sich, er hat eine tragende Rolle, die der Remigrant nicht hat. (Seine Rolle ist undefiniert, er fällt nicht auf, und er hat gelernt, daß es besser ist, nicht aufzufallen.) Es gibt viele, viele Beinamputierte, Kriegsverletzte, und es gibt ein großes Reservoir von Hirnverletzten, und was in ihren Köpfen vorgeht, ist manchmal vollkommen unklar: Man nimmt Rücksicht, schweigt. Man kann (vielleicht glücklicherweise) nicht in ihre Köpfe hineinschauen, aber man glaubt, sie versorgungstechnisch bevorzugen zu müssen, und tut es auch. Behindertengerecht muß Dr. Funk hinaufkomplimentiert werden in eines der oberen Stockwerke. Das Land baut einen Fahrstuhl, und der Steuerzahler bezahlt den Fahrstuhl. Wie Dr. Funk eine Toilette aufsuchen kann, ob überhaupt, unter welchen Umständen, vielleicht unter beschämenden Umständen, und mit welchen Rücksichten, Vorsichtsmaßnahmen oder vielleicht den Steuerzahler exorbitant belastenden Kosten, darüber möchte sich Kornitzer eigentlich keine Gedanken machen.
    Kornitzer dachte jetzt auch wieder an die vielen Beinamputierten in Havanna, die offenkundig keine Kriegsopfer oder keine Opfer von Verkehrsunfällen waren: es wurde einfach zu fett und zu schwer und zu süß im Land gegessen, und dies hatte dramatische Folgen, die der einzelne Esser, die genußfreudige Tortenvertilgerin, nicht wirklich bedachte. Oder: niemand hatte sie im Zweifelsfall vor den Folgen der dauernden Süßspeisen-Attentate gewarnt. Und plötzlich mußte ein Bein amputiert werden. Und die schönen Torten sackten zusammen und bildeten eine weiche Barriere zwischen den Gefährdeten und den noch Gesunden. Und es war gut, daß die Emigranten, was immer sie entbehrt hatten in der Zwischenzeit, nicht so versessen auf Süßes waren. Sie hatten eine multiple Vernünftigkeit, eine ermüdete Anpassungsbereitschaft mitgebracht, die nicht in jeden Zuckertopf fiel, und das bewahrte sie vor vielem, an das sie gar nicht denken konnten, als sie Deutschland verlassen hatten. Die Gefährdung durch Süße war nicht in den Faltblättern, den Ausreise-Erläuterungen der Jüdischen Gemeinden erwähnt worden. Und die Faltblätter, die Richtlinien waren enorm wichtig gewesen. Kornitzer dachte in solchen Augenblicken auch an Amanda: daß man sie mit zu

Weitere Kostenlose Bücher