Landgericht
viel Zucker fütterte, war die banalste Sorge um sie, aber auch keine geringe. Es war manchmal wie ein Horchen, ob er das kleine Mädchen über die Meere hinweg hören könnte, ob es nach ihm riefe, ob es etwas brauchte, ob es
ihn
brauchte, und wenn er nichts hörte oder nur die kalte, sprudelnde Spur, die die Rheindampfer zogen, rheinaufwärts nach Basel, rheinabwärts nach den Niederlanden, die Dampfer waren blütenweiß lackiert, die Rheinschiffahrt funktionierte, länderübergreifend, die Devisen abgreifend, so gut funktionierte kaum etwas zwischendurch, war er bekümmert.
Und er, der in die Niederlande, in einem bequemen Schnellzug mit roten Samtpolstern den Rhein entlang, reiste, mußte in der Stille manchmal annehmen, es sei sein Fehler. Er war, auf ihn selbst verwundernde Art, Vizepräsident der Akademie für Völkerrecht in Den Haag geworden. Darauf war er einerseits stolz, andererseits verstand er sehr gut, daß die Niederländer in einem kleinen Land Juristen aus großen europäischen Ländern in die Akademie einbinden wollten und mußten. Und da es entschiedene Zweifel gab, ob überhaupt ein deutscher Völkerrechtler zu finden war, den man in Anbetracht seiner Vergangenheit in diese feine Akademie einladen konnte, so fielen seine Herkunft, seine Emigration, seine Vielsprachigkeit in die Waagschale, und sie waren gewichtige Argumente. Ja, sein Lebenslauf und seine Karriere waren untadelig, wie sehr er auch selbst daran herumkrittelte und herumfeilte. Nein, er war kein Fachmann für internationales Recht, für Völkerrecht schon überhaupt nicht, aber wenn das nicht störend war, dann war sein Beitrag, seine nicht gesuchte, aber doch gelebte Internationalität willkommen. Wer sich in das kubanische Rechtssystem einarbeiten konnte, der konnte auch andere Rechtssysteme analysieren und Wissen vermitteln, sagten die Juristen, die ihn berufen hatten. Er meldete die Nebentätigkeit ordnungsgemäß dem Präsidenten des Landgerichts in Mainz und fügte abwiegelnd hinzu: „Irgendwie erheblicher Arbeitsanfall ist damit nicht verbunden.“
Er saß also ab und zu Gremien vor, in denen haarscharf Argumente durch die Luft geschossen wurden, vor denen er sich als Deutscher ducken mußte, auch manchmal peinvoll schweigen, und er dachte mit den Niederländern in einer kleinen Runde über Maßnahmen der Verfolgung von Straftaten nach, die überall justiziabel waren (theoretisch) oder sein sollten (praktisch in eine Zukunft gedacht). Die Niederländer fragten ihn nach den Vorbereitungen zum Auschwitz-Prozeß, und er gab Auskunft, so gut er konnte. Sie fragten ihn Löcher in den Bauch, wollten mehr wissen als das, was die deutschen Zeitungen hergaben. Es sah noch aus, als werde es mehrere Prozesse geben und nicht einen (den!) großen, spektakulären. Fritz Bauer, den Namen des Frankfurter Generalstaatsanwaltes, buchstabierte Kornitzer in Den Haag, ein Mann, von dem noch viel zu erwarten war, betonte er. Der Mann, der nach Dänemark und dann nach Schweden emigriert war und zurückgekommen war. Der 1952 als Generalstaatsanwalt in Braunschweig vom NS-Staat als einem „Unrechtsstaat“ sprach und die Rehabilitierung der Attentäter des 20. Juli vorbereitete. Der nach dem Aufenthaltsort Adolf Eichmanns forschte. Und es freute Kornitzer, wie seine Zuhörer an seinen Lippen hingen. Fritz Bauer, der den Auschwitz-Prozeß vorbereitete. (Daß Bauer geäußert hatte: „Wenn ich mein Dienstzimmer verlasse, betrete ich feindliches Ausland“, zitierte er nicht vor den Niederländern.)
Er dachte, er schrieb Konzepte, er hörte das stets röchelnde, heisere Niederländisch, das so klang, als kämen die Laute eher aus einem Kamin als aus der Kehle. Man war sehr freundlich zu ihm, und er wußte, warum: Er war ein Deutscher, aber einer, dessen Lebensweg die Niederländer verstanden und achteten. Im Landgericht Mainz reagierte man schmallippig auf seine Nebentätigkeit, vermutlich einfach aus Neid, der mit Geringschätzung verbrämt war. Er fuhr wieder und wieder nach Den Haag und freute sich an der Ordnung der roten Backsteine, den klitzekleinen Altstadtgassen, der bedachtsamen Gemütlichkeit, am Blitzblanken der Fensterrahmen, an den einladenden Wohnzimmern, die von keiner Gardinenpracht verhängt waren, am pfeifenden Wind. Es war unhöflich, er wußte es, aber er konnte nicht anders als vor erleuchteten Fenstern stehen zu bleiben, da saß eine Familie um einen Eßtisch, und alles war auf so ungeheuerliche Weise normal, daß es zugleich
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