Landgericht
Reise auf eine Kanalinsel, sie könnten sich mit den Kindern in London treffen, all das sind gute Vorschläge, keinesfalls aus der Luft gegriffen. (Jeder würde ihm einen solchen Rat geben, aber er fragt niemanden.) Kornitzer sagt: Erst wenn die Wiedergutmachungssache abgeschlossen ist. Vorher habe ich den Kopf nicht frei. Claire nickt, sie versteht ihn, aber es fällt ihr schwer. Sein Kopf ist frei genug, um immer wieder bei der Akademie für Völkerrecht zu präsidieren, die strengen Formalien tun ihm gut, dort in Den Haag gibt es keine gegnerische Partei. Alle Teilnehmer der Seminare denken über die gleiche Sache nach, ziehen an einem Strang, sie arbeiten ergebnisorientiert, wie man ein halbes Menschenalter später sagen würde. Und: niemand raunt über ihn. Es wird viel diskutiert, aber auch viel gelacht und abends viel getrunken. Und dann fährt er nach Mainz. Der ganze Sommer ist zerpflückt, zerrupft, von Schreiben zu Schreiben Aufregung, von Termin zu Termin Hetze, von einer Gewitterschwüle bis zur Hitzewelle bis zum Frühnebel, der erste Sommer eines Senatspräsidenten im Ruhestand.
Kornitzer reist nach Berlin, stellt selbst Nachforschungen nach den Wertpapieren an. Vielleicht sollte er das nicht tun, er merkt es selbst, er stößt auf verschlossene Türen, er muß sie öffnen. Er stößt auf verschlossene Münder, das kennt er schon, aber die kann er nicht öffnen. Ein Senatspräsident im Ruhestand ist kein Rechercheur, er hat nicht die innere Freiheit, einen Fuß in die Tür zu stellen, er hat nicht die Freiheit, jemandem aus Prinzip lästig zu fallen. Er arbeitet in eigener Sache, das gibt der anderen Seite einen Schein von Objektivität, denn niemand hat ja persönlich die Wertpapiere aus dem Erbe seiner Mutter veruntreut. Das muß er doch einsehen.
Kornitzer kommt von der Berliner Reise nach Hause, ernüchtert, erkältet, schließt die Tür des Hauses auf und findet Claire auf dem Fußboden liegen. Sie hebt den Kopf, sie will etwas sagen. Es gelingt ihr nicht, sie lallt. Richard will ihr aufhelfen, aber sie bleibt liegen, lallt wieder und stöhnt. Hast du etwas getrunken, Claire?, fragt Richard. Es war nahezu unmöglich, sich in Mainz nicht an die allgemeinen Trinkgewohnheiten anzupassen, das war die leichteste Übung. Richard betritt die Küche, kein ungespültes Glas, keine geöffnete Flasche, er hat Claire Unrecht getan, sie kann nicht aufstehen. Hat sie einen Schlaganfall erlitten? Er holt eine Decke, legt sie auf die Seite (stabile Seitenlage), flößt ihr ein wenig Tee ein, bestellt einen Krankenwagen. Jetzt spricht sie deutlicher. Es ist ihr auf der Treppe plötzlich schwarz vor Augen geworden, sie wollte sich festhalten am Geländer, aber das gelang nicht. So rutschte sie die Treppe hinunter. Sie weiß nicht, wie lange sie da in der Diele gelegen hat. Ja, sie hat versucht, ans Telephon zu robben, Hilfe zu holen, aber sie war zu schwach. Sie weint vor Schwäche, sie weint vor Demütigung durch die Schwäche, sie weint, weil sie allein war, als sie fiel. Wenn du da gewesen wärst, stöhnt es aus ihr heraus. Und dann verliert sie wieder das Bewußtsein.
Wenn du da gewesen wärst. Diesen Satz sagt er sich dann häufig vor, wenn er täglich zu Claire ins Krankenhaus fährt. Ihr Oberschenkelhals ist gebrochen, ihre Nierenwerte sind bedenklich, sie erholt sich nicht. Um an Krücken zu gehen, ist sie zu geschwächt. Wenn du da gewesen wärst. Wenn du nicht emigriert wärst. Wenn wir beide nicht in eine so verstörende Situation gekommen wären. Wenn du von Bettnang nicht nach Mainz gegangen wärst. Wenn du nicht nach Den Haag gereist wärst. Wenn du nicht in Berlin auf der Suche nach den Wertpapieren gewesen wärst. Eine ganze Latte von unausgesprochenen Vorwürfen. Dabei hatte sich Kornitzer in Berlin nicht einmal Zeit genommen, nachzusehen, was aus dem Universum geworden war und aus dem schönen Haus in der Cicerostraße. Gab es die Tennisplätze noch? Er war so unruhig, so mißmutig in Berlin gewesen, daß er sofort nach seiner gescheiterten Mission abgereist war. Andere hätten sich noch ein paar Stunden auf Cocktailsesselchen in einer stromlinienförmigen Bar am Ku’damm gegönnt. Doch dazu war Kornitzer in seiner verdüsterten Stimmung nicht in der Lage.
Er wendet sich noch einmal an die Wiedergutmachungsämter von Berlin. Er möchte jetzt unbedingt etwas für Claire erreichen. Wenn er schon bei den Wertpapieren aus dem Erbe seiner Mutter nicht fündig wurde. Das Armband, die
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