Landgericht
gemütlich an, ohrensesselhaft, schläfrig.
In den Ruhestand versetzt ist
eine plüschige Draperie über dem Rausschmiß aus dem Landgericht. Jetzt geht alles sehr schnell. Am 30. September 1957 schickt das Ministerium der Justiz ein Schreiben an den Herrn Landgerichtspräsidenten in Mainz mit der
Bitte, die Ernennungsurkunde von 25. September 1957 und die Urkunde über die Versetzung des Richters in den Ruhestand vom 28. September 1957 noch heute zuzustellen und den Zustellungsnachweis vorzulegen
. In einer schnörkeligen Handschrift mit dokumentenechtem Kopierstift hat jemand auf dem Papier bemerkt:
Eilt sehr
. Ja, einen Tag vor dem endgültigen Ausscheiden aus dem Landgericht sollte der gleichzeitig Erhöhte und aus dem aktiven Justizdienst Eliminierte Klarheit über seinen Rechtsstatus haben, der Schnitt ist getan, die Wunde blutet noch ein wenig nach. Und da ist die vornehme Ernennungsurkunde:
Im Namen des
Landes Rheinland-Pfalz
ernenne ich
den Landgerichtsdirektor
Dr. Richard Kornitzer
zum Senatspräsidenten
Der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz
gez. Altmeier
(Links neben dem Namen prangt das Dienstsiegel.) Nein, keine Feier, kein Händedruck, kein Gläschen Riesling wie am Tag der Ernennung zum Landgerichtsrat in Mainz, auch nicht mit Claire im Schindelhaus, es ist ein ganz normaler Tag (oder er soll als ein solcher in Erinnerung bleiben, oder er soll überhaupt nicht in Erinnerung bleiben oder als ein Tag, an dem der Gerichtsbote geklingelt hat, der Tag, an dem eine Unterschrift bei der Aushändigung einer Urkunde verlangt wurde), der Tag, an dem etwas zu Ende ging. Kornitzer fühlt den Impuls, die Klappläden zu schließen, aber er tut es dann doch nicht. Aus Rücksicht auf Claire, aus Rücksicht auf die Nachbarschaft. Es ist ein ganz normaler Tag, jedenfalls will er das glauben, will es sich selbst glauben machen. Die Essigfabrik riecht, die Schuhwichsefabrik riecht, die Straßenbahn klingelt. Gegen siebzehn Uhr beginnt es leicht zu regnen, am Abend spiegelt sich das Muster der Straßenlaternen auf dem Pflaster, Claire hat Spinat mit Rührei zubereitet. Vielleicht war sie, als der Bote kam, viel aufgeregter als Richard. Dann ist es ruhig, und dann ist es doch Zeit, die Fensterläden zu schließen, Geborgenheit im Haus zu simulieren.
Jetzt sind die Tage lang, und die Nächte sind schlaflos. Mit Feuereifer stürzt sich Kornitzer in die Arbeit für seine Wiedergutmachung. Was er als Landgerichtsdirektor nur nebenbei erledigen konnte, wird jetzt groß geschrieben. Er kämpft um die Judenvermögensabgabe und geistert nachts durchs Haus, öffnet leise seine Schreibtischschubladen, und er öffnet sein Gedächtnis. Und was er verloren hat, steht so lebhaft vor ihm, als habe er es gestern verloren, es ist ein taktiles Empfinden für die Beraubung. Ein Viertel des Vermögens mußte bei der Auswanderung als Reichsfluchtsteuer abgeführt werden, der Rest konnte nur unter großen Verlusten umgetauscht werden. (Nach Kriegsbeginn ist der Anteil des Vermögens, das die Finanzbehörden einbehielten, auf 96 Prozent geklettert. Die Finanzbehörden sind der lange Arm des Faschismus. Die trappelnden Stiefel, das Gegröle, das pathetische Geschrei, die Verhaftungen, die Schmutzarbeit auf der einen Seite: dagegen die Formulare, die Drucksachen, die Bescheide, die rastergenaue Erfassung aller Juden. Den Finanzbehörden oblag es, die bürgerliche Existenz der Verfolgten auszulöschen. Mit den Mitteln der Ausplünderung wurde die Sondersteuer eingetrieben. Es kommt Kornitzer so vor, als habe er persönlich mit dem Erbe seiner Mutter die Aufrüstung und die Kriegsführung finanzieren müssen. Jetzt in den schlaflosen Nächten legt er Listen an. Er erinnert sich an folgende Bücher: 1 großes Corpus iuris in lateinischer Sprache, einen Band des hebräischen Textes des Alten Testaments mit Vokalzeichen, Hauffs Märchen in 2 Bänden, etwa 30 Bände Reichsgerichtsentscheidungen und etwa sechzig weitere Bände, die er nicht genau benennen kann, Fachbücher vor allem. Nein, ein großer Leser war Kornitzer nicht gewesen. Aber daß Claire in den letzten Jahren so viel liest und Bücher anschafft, von Menschen in den Büchern so plastisch erzählt, als hätte sie sie auf dem Wochenmarkt getroffen, gefällt ihm. Sie sieht zufrieden aus, wenn sie liest, auch schmerzfrei.
Er listet ein Ölgemälde aus dem Besitz seiner Mutter auf: Stettiner Bahnhof (den Maler kennt er nicht), ein Bild von Murillo: Antonius von Padua mit dem Jesuskinde,
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