Landgericht
gelangweilten, bestürzend reinen Schönheit, karibisch oder schlesisch oder brandenburgisch, er wußte es nicht, und im Einschlafen sagte er sich: Wie gleichgültig, nur das blendende Weiß blieb, und er wußte nicht, ob das blendende Weiß doch etwas mit dem Bettzeug der Familie Pfempfle zu tun hatte, das er häufig auf der Wiese hatte bleichen gesehen und unter dem er doch im allgemeinen gut schlief.
Bunker
Als die Apfelernte begann, duftete das Haus der Pfempfles. In der Scheune, in der Diele, auf dem Treppenabsatz, überall standen Kisten mit Äpfeln, roten Äpfeln, grünen Äpfeln, Äpfeln, deren Schale dramatisch gelbrot geflammt war, und solchen mit rauher Schale. Der ganze Hof wirkte nun wie ausgerichtet auf die Helfer mit ihren Tragen und Kisten, in die sie die Äpfel pflückten. Der Traktor tuckerte und röhrte, an jedem Tag Hochbetrieb, der ganze Weiler Bettnang war von morgens bis spätabends auf den Beinen. In dieser Zeit erhielt Kornitzer einen offiziellen Brief, der ihn elektrisierte und vom Dorfgeschehen wegriß. Das Justizministerium des neu gegründeten Landes Rheinland-Pfalz ließ anfragen, ob er eine Stelle am Landgericht Mainz antreten wolle. Was ist ein Landgericht?
Man stellt sich ein Land vor, das Landesinnere des Landes, öde Wege, verschlammte Wege, ein geprügelter Hund, der im Schatten jault, ein Hund, dessen Vorfahren noch an einer Kette zerrten, Kläglichkeit, der Richter in einer speckigen Robe, glanzlos, Aktenstaub auf den Ärmeln, Aktenstaub auf dem schütteren Haupthaar, ein Räuspern, bevor er spricht, mit belegter Stimme. Im Namen des Volkes. Hat das Volk einen Namen, hat das Volk ein Gesicht? Hat das Land ein Gericht? Hat es ein Gericht verdient? Ist ein Gericht auf das Land niedergegangen? Ja und nein. Es gibt Richter, die wollen allein sein, ein Urteil fällen ganz allein, sie sind Einzelrichter, im Einzelzimmer hinter sich das Kreuz, dem Angeklagten Aug in Aug gegenüber, nur mit dem Protokollführer und dem Staatsanwalt und dem Rechtsvertreter des Angeklagten im Raum, ein kleines Kammerspiel des Abwägens und Richtens, ihr Platz ist am Amtsgericht. Nie werden sie mit einem Mord konfrontiert, nie mit einer gefährlichen Brandstiftung, nie mit einem Banküberfall. Sie können gut leben mit den eher harmlosen Rechtsverdrehungen, mit Beleidigungen und Meineiden, mit der Vortäuschung von Trunkenheit, um eine Strafmilderung zu erreichen. Sie pflügen den Boden, merzen Unkraut und Unrecht aus und säen Recht. Zum Landgericht dagegen steigt man einige Stufen hoch, man steigt und steigt, eine gewisse Einschüchterung ist vorgesehen. Der Richter am Landgericht ist nie allein, er hat zwei Beisitzer, mit denen er jeden Fall sorgsam erörtert. Sie bewundern ihn, das erwartet er, er greift ein, er führt aus, und manchmal rücken die Beisitzer von ihm ab und zischeln hinter seinem Rücken, darüber muß er rätseln, aber die Verhandlungsführung läßt ihm keine Zeit zum Grübeln; er ist eine Instanz, nicht die letzte, gewiß nicht. Mit seinen Beisitzern zusammen bildet er eine Kammer. Das Landgericht ist eine Höhle, ein Bienenstock, Kammer an Kammer, Wand an Wand wird auf das Recht gepocht, wird mit Anklagevertretern und Rechtsanwälten gefeilscht, werden Zeugen in die Kammern geschleust, befragt und vereidigt. Das Landgericht vibriert, es lebt, es malmt, und am Ende spuckt es Urteile aus. Es ist eine große, gut geölte Maschine. Man steckt die Hand hinein wie in den Mund der Wahrheit, und sie kommt heraus, zerbissen, verkratzt, blutig. Oder sie ist heil geblieben, wundersamerweise, genau so unbeschädigt, wie sie vorher war. Der Besitzer der Hand ist freigesprochen worden aus Mangel an Beweisen. Kornitzer als junger Referendar in Berlin hatte sich gleich innerlich für das Landgericht entschieden, seine guten Noten und Beurteilungen halfen dabei. Am Landgericht werden Zivilsachen von einem bestimmten Streitwert an behandelt und Straftaten, die eine Freiheitsstrafe über fünf Jahre erwarten ließen, keine kleinen Fische. Das Landgericht hatte für Kornitzer eine Welt aufgetan, und aus dieser Welt war er vertrieben worden. Jetzt, mit dem Brief aus dem Justizministerium öffnete sich ihm diese Welt von neuem, er war eine Genugtuung, dieser Brief.
Kornitzer, der geborene Breslauer, der seit seinem sechzehnten Lebensjahr in Berlin gelebt hatte, der Berlin nur ungern verlassen hatte, verjagt, vertrieben, der sich ein bißchen an die karibische Trägheit in Havanna, das Schaukeln, das
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