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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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halten können. Normal ist das nicht möglich, die Zuteilung reicht gerade fürs Kochen aus. Rauchwaren gibt es ungefähr ein Dutzend Zigarren im Monat oder eine entsprechende Zigarettenmenge. Aber sonst leben wir Älteren sehr schön von der Erinnerung
(Welche Erinnerung, zum Teufel?, fragte sich Kornitzer beim Lesen),
nur schade, daß man daran weder satt noch warm wird. Es sei denn, daß man ein hitziges Gemüt hat, was ich bei Ihnen nicht voraussetze. Trotzdem dürfen Sie sich durch diese nackten Tatsachen nicht abschrecken lassen. Man wurstelt sich so durch und wundert sich jeden Tag von neuem, daß es doch immer wieder irgendwie geht. Geduld ist der große Schutzengel, der uns alle umgibt
.
    Also seien Sie so freundlich und geben Sie mir recht bald Bescheid, ob Sie nach Mainz kommen werden. Ich brauche Ihnen nicht erst zu versichern, daß ich alles für Sie tun werde, daß Sie hier nicht ein Troglodyten-Dasein zu führen haben
. Und dann wurde Kornitzer mit freundlichen Grüßen in seine Verwunderung entlassen. An einen Schutzengel konnte er sich nicht erinnern, beim besten Willen nicht, eher an ein chronisch gewordenes Ungeschütztsein, er hatte sich durchgeschlagen. Am liebsten hätte er den Brief unbeantwortet gelassen, der angeschlagene Ton, die Mischung aus plumper Vertraulichkeit und Abwehr des Neuen war ihm zuwider. Er übersetzte sich Damms Brief in ein „Kommen Sie bloß nicht, aber wenn Sie kommen, kommen Sie in meinen Einflußbereich, dort sind Sie am unschädlichsten“. Er rang sich dann durch, Damm ein paar formelle Zeilen zu schreiben, er habe noch keine Entscheidung gefällt, er wolle Erkundigungen einholen. Ausführlich schrieb er an den Landgerichtspräsidenten über seine Besorgnis, nach seinem langen Aufenthalt in der Emigration unter schlechtesten Wohnbedingungen, aufgenommen im Dachstübchen seiner Frau, in einer so zerstörten Stadt (die Prozentzahl, die Damm ihm genannt hatte, erwähnte er nicht) seine Arbeit aufzunehmen. Und er bat um Hilfe bei der Beschaffung einer Wohnung. Die Antwort aus dem Landgericht war liebenswürdig im Ton, aber hart in der Sache. Die Innenstadt von Mainz sei zu 75 Prozent zerstört, Wohnraum sei knapp, und das Landgericht könne bei der Beschaffung nicht behilflich sein. Kornitzer möge vorerst im Hotel wohnen, in dem auch andere neu an das Landgericht berufene Richter wohnten. Kornitzer verglich im Kopf die Prozentzahl der Zerstörung, die Erich Damm ihm genannt hatte, mit der vertrauenswürdigeren Prozentzahl, die aus dem Landgericht kam, und fragte sich: Was hatte Damm dazu getrieben, ihm eine so abstoßend hohe Zahl zu nennen? Es kam ihm vor wie eine Suggestion: Sie werden hier Ihres Lebens nicht froh. Sie werden eine Trümmerexistenz führen. Er zeigte den Brief Claire und mußte gar nicht viele Worte machen. Er sah die Enttäuschung in ihrem Gesicht überdeutlich. Also vorerst kein gemeinsamer Haushalt, Zerstreutheit, Wechsel, noch ein Provisorium, wieder ein Provisorium.
    Der Abschied von Claire, die ihn zum Bahnhof brachte, war wortkarg und ließ ihn unbeholfen zurück. Etwas war an ein Ende gekommen, das angefangen hatte unter den Apfelbäumen, den von der Sonne aufgeleckten Schneeresten. Claire und Richard Kornitzer hatten Meinungen und Vorstellungen ausgetauscht, die sich entwickelt hatten in der Zeit ohne den Ehepartner, sie waren besorgt, wenn diese sich nicht miteinander in Übereinstimmung bringen ließen. Sie hatten mit Empfindungen und Worten wie mit Schneckenfühlern aufeinander zu getastet, und wenn die Worte sich nicht erreichten, schwiegen sie, um den jeweils anderen nicht zu verletzen. Es war ja niemandes Schuld, daß sie wieder getrennt leben mußten. Es ist ja nicht für lange Zeit, sagte Richard, um Claire zu trösten. Er sah ihr trauriges Gesicht, ihren zusammengebissenen Mund, ihre versteinerte Regungslosigkeit, er sah nicht gerne hin, wie Claire so hoffnungslos dastand. Es ist doch nur für kurze Zeit, wiederholte er, wir haben mehr ausgehalten, Claire. Ja, sagte sie, wir haben mehr ausgehalten, aber jetzt kann ich nicht mehr. Kornitzer legte ihr die Hand auf den Arm und sagte: Du bist doch stark. Es war ein Appell, der sie kleinlaut werden ließ. Stark sein zu müssen, machte die Sache nicht leichter. Er stieg in den Zug, verstaute das Gepäck, als er noch einmal an die Waggontür trat, hatte sie sich abgewandt, sie ging mit kleinen tastenden Schritten, als ob sie plötzlich schlecht sähe oder ob sie betrunken wäre, den Perron

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