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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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hinunter zum Bahnhofsgebäude. Dann sah er sie nicht mehr, und sie hatte sich nicht einmal umgedreht nach ihm.
    Die Bahnreise von Lindau durch den Rheingraben ein grünes Band, Buchenwälder, Wiesen, weiße Wölkchen blieben Kornitzer im Gedächtnis, eine unwirkliche Reise, dann zogen kurz vor Mannheim doch dunklere Wolken auf, es sah aus, als balle sich ein Gewitter zusammen. Aber die erwartete Spannung entlud sich nicht. Statt dessen sah Kornitzer, als der Zug in die Stadt einfuhr, den zusammengeschossenen Hafen, die Ruinen der Lagerhäuser, Backenzähne, die eingekracht waren, hohle Backsteinräume, bröcklige Brücken zwischen vernünftig Abgesichertem und gänzlich Unsicherem, Wackliges im Kopf und in der Statik, Schornsteine und düstere traurige Lücken in Häuserzeilen, darin hoch aufgeschossene Bäumchen, Birken. Er sah Holunderbüsche in strotzendem Grün, hyänenhaft in ihrem Wachstumseifer, als gäbe gerade das Zertrümmerte den Pflanzen die beste Nahrung.
    Als er die Bahnhofshalle (oder das, was von ihr übriggeblieben war) verließ, empfand er die Zerstörung wie einen Schock. Er ging eine Allee entlang, an ihrem Rand war ein Pseudo-Renaissance-Giebel stehengeblieben, das Gebäude hinter ihm zusammengesackt, der Giebel stand so schutzlos, als beginne er beim leisesten Windhauch schon zu schwanken. Auch eine Hausecke, geschmückt mit einer mittelalterlichen Madonna, deren Kind segnend einen Arm ausstreckte, war stehengeblieben, daneben ein Schuttberg, jetzt sah es so aus, als segne das Kind irrtümlich huldvoll den Schutt.
    Daß Häuser aus so vielen einzelnen Steinen bestanden, daß so viele Steine, mit denen einmal ein Haus errichtet worden war, einen gewaltigen Berg ergaben, in dessen Ritzen sich Staub ansammelte, Erde, in der sich Samenkörner festsetzten und trieben, erstaunte ihn. Auch der Geruch der Stadt war ihm fremd, brandig und feucht zugleich, es war ein Geruch, wie er ihn noch nie gerochen hatte. Dann rumpelte eine Straßenbahn vorbei, auf der in Kursivschrift zu lesen war:
Jacobs Kaffee wunderbar!
Das Adjektiv war adrett unterstrichen. Die Straßenbahn hatte die Nummer 160 und war heil durch die Zeiten gekommen. Er hielt inne vor einem Ziegelhaus mit einer Front von drei Fenstern, das vielleicht um 1900 gebaut worden war. Es stand allein in einem Trümmerfeld, der zweite und der dritte Stock waren abrasiert. Der untere Teil des Hauses schien intakt, bis auf einige Splitterschäden und Brüche in der Sandsteinumrandung der Fenster. Doch die Tür war mit einem Balken verrammelt, die Rolläden im Parterre und im ersten Stock waren heruntergelassen. Das Haus schien zu dämmern, kein Licht drang durch die Ritzen. Also war es doch vermutlich unbrauchbar geworden durch herabfallende Trümmer, verkohlte Balken aus dem oberen Stock oder durch das Löschwasser. Plötzlich erinnerte sich Kornitzer, daß er in einem ähnlichen Haus in Breslau gewohnt hatte, vielleicht rührte ihn deshalb die Verlassenheit des Hauses so sehr. Er selbst hätte darin sein können, er als ein junger Mensch, der sich eine Zukunft ausmalte, die dann nicht eingetroffen war.
    Das Hotel war nicht weit vom Bahnhof entfernt, er fand es ohne Mühe. Zu seiner Überraschung war es ein Luftschutzbunker, zu dem man zwanzig Stufen in die Erde hinabsteigen mußte. Das hatte man ihm aus dem Landgericht nicht geschrieben. Es erstaunte ihn, daß aus einem Massenquartier eine gemütliche, wohnliche Halle entstanden war, überall brannten kleine Lampen mit Seidenschirmchen, so daß man das Tageslicht auf Anhieb gar nicht vermißte. Nur am Eingang des langen Ganges sah man die Kellerbeleuchtung mit ihren auf dem Putz verlegten Leitungen, die Glasschirme waren hinter Drahtkörben geschützt. Er stellte sich die drängenden, nachdrängenden Menschen beim Sirenengeheul vor, den Ansturm von Frauen und Kindern auf die Pritschen, die Ordner, die schweißtreibende Angst im Bunker, während die Alliierten die Angriffe auf Mainz flogen. Und er konnte sich selbst als eine Romanfigur vorstellen, einen Mann, der unter Verlust seiner Frau und seiner Kinder in dem Bunker Zuflucht suchte und zu seiner eigenen Verblüffung nur einen Geruch vorfand: Moder. Grabesluft, das roch er, aber er wollte den Begriff nicht denken. Nun war der Bunker ein Hotel mit über hundert Betten geworden. Eine freundliche Frau, die auch durch ihre Resolutheit vermied, an die frisch abgestreifte Geschichte des Bunkerhotels zu erinnern, verwaltete die Schlüssel an der Rezeption.

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