Landgericht
Klubtische und Klubsessel standen in der Halle, es war eine fast vornehme Beruhigung im Eingangsbereich, und die meterdicken Außenwände wurden durch elektrische Ventilation entlüftet. Nur der Schlag der feuerfesten, eisernen Türen hallte dröhnend von den Wänden zurück. Im Gegensatz zum Eingangsbereich hatten die engen Zimmer, die eher Kojen oder Zellen waren, eine asketische Anmutung. Neonlicht, das die Augen anstrengte, ein Tisch, ein Stuhl, ein Haken an der Wand und ein Bett, das an der Schmalseite des Raumes stand und an ein Feldbett erinnerte, die Decke darüber straffgezogen. Aus der Nachbarkoje hörte Kornitzer, als er sich eingerichtet hatte, das Hacken einer Schreibmaschine, es hallte gegen die Betonwände. Es kam ihm vor, als schriebe ein Gefangener in einer Zuchthauszelle eine Eingabe an den Richter, der er, Kornitzer, nicht sein wollte. Schlaf hier und denk nicht daran, was diese Bunkerräume nicht zum Erschüttern gebracht hat, mußte man sich sagen, wenn man die Tür zu seiner Koje geschlossen hatte.
Kornitzer verließ den Bunker noch einmal, ging nach der langen Reise noch ein wenig spazieren, aß eine Bratwurst und sah sich das an, was von der Stadt übriggeblieben war. Er sah Türme, Giebel, notdürftig gedeckte Dächer und helles Licht aus Kellern und Souterrainräumen, deren Fenster mit Kleidungsstücken verhängt waren. Tastende Autoscheinwerfer und hier und dort eine helle Reklame. Bauteile, die sich übermäßig in die Mondhelligkeit streckten, ihres Zusammenhangs beraubt. Treppenhäuser mit geblümten Tapetenresten, Schornsteine, Wundkrater, das Stehengebliebene schien absurder als das Gefallene. Eine hohe Hausfassade war noch vorhanden, das Haus dahinter war verschwunden in einem Trümmerberg, und die Fassade wurde notdürftig mit Balken abgestützt. Es sah aus wie eine Kulisse eines Filmes, der morgen im hellen Licht gedreht werden würde. Nur der Marktbrunnen stand da, ganz unverletzt, und sprudelte. Er war während des Krieges durch einen gemauerten Splittermantel geschützt worden. Still war es in den innenstädtischen Straßen, durch die er ging. Und das verwirrte ihn nach der langen Zeit im Dorf über dem Bodensee, er hatte sich etwas wie ein Nachtleben vorgestellt, aber vielleicht war das auch unterirdisch oder ganz anderswo. Er hatte die Sirenen ja nicht gekannt, nicht die zusammenbrechenden Häuser, von denen andere Hotelgäste am nächsten Morgen beim Frühstück in auftrumpfender Dramatik sprachen. Mainz habe mehrere schwere Angriffe erlebt. Die ersten beiden britischen Angriffe auf Mainz fanden am 12. und 13. August 1942 statt, erzählte ihm die Frau an der Rezeption. Ein nicht enden wollender Flüchtlingsstrom von Frauen und Kindern aus Mainz kam in Frankfurt an. 34 Lastkähne, die mit Kohle beladen waren, wurden im Hafen versenkt. Die Engländer machten Luftaufnahmen der Stadt und meldeten ihre Erfolge.
1. Dom: Dach zerstört und Kreuzgang beschädigt.
2. Theater: in Schutt und Asche gelegt.
3. Bischöfliches Palais: ausgebrannt.
4. Stadthaus: ausgebrannt.
5. Justizgebäude: Dach verbrannt.
6. Schloß, Museum: völlig ausgebrannt.
7. Bibliothek: teilweise ausgebrannt.
8. Offizierskasino: ausgebrannt.
9. Eisenbahnverwaltung: teilweise zerstört.
10. Invalidenhaus: völlig ausgebrannt.
11. Kegler-Sportheim: Dach schwer beschädigt.
Mit anderen Worten, dabei legte die Frau kennerisch den Kopf schief: Der Gegner verfügte über so viele Luftaufnahmen, daß er sich ein genaues Bild schaffen konnte. Und Kornitzer verstand: Die akribisch genaue Dokumentation der Angriffe war das produktive Gegenteil des wilden Wütens der deutschen Luftwaffe über London und anderen englischen Städten. Später hörte er, die Engländer hätten sich an photographischen Aufnahmen von Mainz aus dem Jahr 1934 orientiert, die vom Verkehrsverein Mainz e. V. in alle Welt verschickt worden waren, wenn man sie nur anforderte.
Der schwerste Angriff mit einem Bombergeschwader von 500 Maschinen war am 27. Februar 1945. Über 33.000 Menschen seien obdachlos geworden, hätten sich im Umland verkrümeln müssen. (Seltsam, von den Toten hörte Kornitzer nichts.) 75 Prozent der Städtischen Verkehrsbetriebe seien lahmgelegt gewesen: die Gebäude ausgebrannt, die Schienenstränge, die Straßenbahnen unbrauchbar. Gas, Strom und Wasser funktionierten nicht mehr. Vor dem Städtischen Krankenhaus und in der Kaiserstraße habe es Löschteiche gegeben, die aber nicht ausreichten, die meisten Hydranten
Weitere Kostenlose Bücher