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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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junge Frau ein Lächeln in den Augen hatte.
    Vielleicht will Claire gar nicht kommen. Einerseits wäre dies traurig, eine Niederlage für ihn, andererseits auch vollkommen verständlich, sie hatte jahrelang notgedrungen alleine verbracht, in möblierten Zimmern gehaust, der Hausstand zerstreut, verloren, aufgegeben, die nackte Existenz war ihr vernichtet. Wenn Claire und er wieder eine richtige Ehe führten, dann doch unter guten Bedingungen. Die guten Bedingungen erleichtern eine gute Ehe, das war zwar nicht bewiesen, aber der Satz war beruhigend nach so viel Kummer, Unruhe, Zweifel. Diesmal fuhr er ohne ein müßiggängerisches Spazierengehen gleich in die Stadt zurück, erbat sich eine Postkarte an der Rezeption des Bunkerhotels. Liebe Claire, schrieb er rasch, nach dem Berechtigungsschein stehen mir und meiner Ehefrau zwei Zimmer zu. In der ganzen Stadt scheint aber nur ein einziges Zimmer verfügbar zu sein, jedenfalls nur eines, das mit meiner Berechtigung zu mieten ist. Es ist ein nettes Zimmer bei netten Leuten, und der Blick geht auf einen Apfelbaum. Willst Du unter diesen Bedingungen kommen? Oder willst Du abwarten, bis ich eine bessere Wohnmöglichkeit gefunden habe? Bitte antworte mir so rasch wie möglich, ich muß mich entscheiden. Dein Dich stets liebender Richard.
    So hatte er früher seine Briefe an Claire unterzeichnet, und er sah trotz aller voraussehbaren Schwierigkeiten keinen Grund, nun eine andere Formel zu finden. Als er mit dem Schreiben fertig war, setzte er sich auf die Bettkante, die eine Pritschenkante war, aß langsam den Apfel, nicht aus Hunger, sondern aus müder Gier, also ohne wirklichen Genuß, bis ihm der Saft auf den Unterkiefer tropfte.
    In der Nacht wachte er ganz unmotiviert auf, dachte an das kleine, lebhafte Dreis-Mädchen, das mit der Kerze die Treppe beleuchtet hatte. Es war ungefähr so alt wie seine Tochter Selma, als Claire sie und ihren größeren Bruder in einer herzzerreißenden Aktion wegbringen, wegschicken mußte, und die Kinder begriffen es nicht. Claire kam zurück und weinte fassungslos. Sie sagte: Selma klammerte sich um meine Beine, als wären es Säulen. Ich mußte fast treten, damit sie die Umklammerung losließ. Und als ich sie noch einmal oder wirklich erst von mir abgenabelt, von meinen Beinen abgepflückt hatte, in denen sie sich mit ihren Händchen verkrallt hatte, kam ich mir wie eine Verräterin vor. Ich setzte meine Kinder aus – mit Pappdeckeln, auf denen eine Nummer geschrieben stand, um den Hals, in einer abstrakten Vernünftigkeit, aber alles Konkrete, meine Liebe, meine Besorgnis und die meines Mannes spielten nur eine untergeordnete Rolle. Sie sprachen darüber, sprachen ernsthaft und lang, und die Entscheidung, die sie fällten, hatte keinen Namen, aber eine entschiedene Rationalität, die aller Elternliebe und dem Alter, dem ängstlichen Zustand der Kinder widersprach. Es war entsetzlich, daran zu denken. Es war entsetzlich, sich Claires versteinertes Gesicht vorzustellen, als sie sagte: Gut, es hilft nichts, ich bringe die Kinder zu einem Kindertransport nach England. Es hilft dir und mir, und es macht uns todtraurig. Ihre Vernünftigkeit war musterhaft, so hatte er sie in Erinnerung behalten. Und so musterhaft, so beispielhaft war er nicht geblieben. Als wäre er in Kuba in der Hitze erweicht worden, aufgeweicht, entfesselt vom Zwang der Rationalität, so kam er sich jetzt vor. Vielleicht hätte er auf der Postkarte noch einen Satz hinzufügen sollen: Die Vermieter haben eine Tochter in Selmas Alter, Du wirst sie gleich mögen. Dann verwarf er den Gedanken wieder. Das fremde Kind würde Claire nur traurig machen, solange sie von den eigenen Kindern getrennt war. Schließlich fühlte er sich wie vor den Kopf geschlagen: Natürlich, das Dreis-Mädchen war etwa so alt, wie Selma gewesen war, als Claire sie wegbrachte. Selma war jetzt fünfzehn, das wußte er theoretisch, aber der Kalender war für ihn stehengeblieben. In seinen Gefühlen war Selma immer noch die Vierjährige.
    Er sprach noch einmal im Wohnungsamt vor, ging, mit seinem Berechtigungsschein wedelnd, an der langen Schlange der Wartenden einfach vorbei, überhörte das Murren und schilderte der Frau das Problem. Zwei Zimmer standen ihm zu, aber die Familie erwartete den einen Sohn aus der Gefangenschaft zurück, und der andere war nach Hause gekommen und sollte nicht bei der Schwiegertochter und ihrem Kind wohnen. Da kann ich auch nichts machen, sagte die Frau mit müder Stimme.

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