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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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Finanzierungen, Verhandlungen, ein Kreditrahmen, Bürgschaften, im Zweifelsfall konnte sie den früheren Besitzer fragen, den Herrn Kommerzienrat, im Zweifelsfall ihren Mann, ihn, der sich gerne fragen ließ, um ihr einen Rat zu geben, einen unerbetenen Rat verbat sie sich. So mußte er warten, manchmal lange warten, bis sich in ihr, an ihr nur ein Hauch von Hilfsbedürftigkeit zeigte. Und er mußte sorgsam handeln, damit er seine lebhafte Freude, ihr helfen zu können, nicht übermäßig ausstellte. Denn das hätte sie mürrisch gemacht. Sie hätte vermutlich gesagt: Also lieber wäre dir wohl eine hilfsbedürftige kleine Frau gewesen, der du das Haushaltsgeld und Ratschläge in kleinen Portionen hättest erteilen können. Nein, nein, lachte er und umarmte sie. Dich wollte ich, die kluge, die tüchtige, die geschäftstüchtige Claire, niemanden sonst! Und später am Abend reichte sie ihm die Vollmacht herüber, die auf ihn übergegangen war mit der Heirat, die sie geschickt wieder an sich gezogen hatte als Geschäftsführerin einer GmbH, die sie in eigener Vollmacht auf ihren Namen begründet hatte. Und Kornitzer, der mit leichter Hand unterschrieb damals, als jemand, der möglicherweise in einem nicht auszudenkenden Fall, beim Tod seiner Gattin, Verpflichtungen übernahm, Verpflichtungen übernehmen mußte, fühlte sich stark, unendlich stark in der Nähe seiner starken Frau, und diese Stärke reichte auch noch bis in die Verfolgung, in die geplante Vernichtung, reichte wie eine Rampe, die ihn in ein anderes Leben weit weg von Claire geschossen hatte, hinein: in den Schiffsbauch, in das Ankommen, in den Hafen von Havanna, in die furchtbare tropische Hitze. Und dann war er von Claire abgetrennt, und er war ihr fast böse, als hätte er mit der Emigration (das sich anbietende Wort „Auswanderung“ kam ihm immer obszön vor, er war aus seinem Land verjagt worden) einen Weg beschritten, der so schwankend war, daß er ihn nur am Arm seiner Frau, oder seine Frau an seinem vermeintlich sicheren Arm hätte gehen können. Aber mit wem hätte er jetzt darüber sprechen können. So sprach er mit sich selbst, und das war nicht das Schlechteste, er mußte sich selbst kein einziges Wort vom Emigrantendeutsch ins neue Nachkriegsdeutsch übersetzen, das heißt: Er schwieg beharrlich, sprach auch nicht mehr im Kopf mit Claire, sprach nur noch mit sich selbst, also verstummte er.
    Später las er in einer Zeitung, daß sich die berühmte
pressure group
der Literatur, die Gruppe 47, auch gegen die Mitgliedschaft von Emigranten wehrte mit dem durchsichtigen Argument, diese sprächen und schrieben ein altmodisches Deutsch, jedenfalls nicht das Deutsch, das durch die Erfahrungen des Krieges, der Kriegsteilnehmerschaft und der Kriegsgefangenschaft gehärtet, gestählt worden sei. Mit anderen Worten: ein fremdes, altmodisches, zu wenig zugespitztes Deutsch, das den harten Tatsachen des Nachkriegs, der Assimilation von Kriegern an eine Nachkriegsgesellschaft nicht gewachsen war. Die Anpassungsleistungen, die die Emigranten schweigend, sich verneigend vor dem Los der Ausgebombten, Dezimierten leisten mußten, zählten nicht. Und die Vernichtung ihrer Existenz zählte auch nicht, sie waren auf eine schweigsam bestürzende Weise marginalisiert. Das eine war: in die Niederlage getrieben worden zu sein. Und das andere: in eine ausweglose Heimatlosigkeit getrieben worden zu sein, weitab von dem Empfinden für Sieg oder Niederlage. Und nun die Niederlage als Glück, als Empfängnis von etwas Einzigartigem, Neuem zu empfinden, war nicht gegen das Desaster aufzuwiegen, das Desaster war klamm, sprachlos und peinlich. Die bedingungslose Kapitulation, die Kornitzer ersehnt hatte, die über die Deutschen gekommen war, war leise. Die Minderheit hatte sich auf demokratische Weise dem schweigend bestehenden Mehrheitsdeutsch zu beugen, das war im Landgericht akzeptabel, aber nicht im privaten Bereich. Kornitzer dachte noch einmal an den Apfel, den ihm die junge Frau Dreis wie im Paradies vom Dach des Kleiderschranks geholt hatte, und er fühlte sich unendlich privilegiert, so sehr, daß er keine Worte dafür hatte. Er hatte den Apfel dann während der ganzen Trambahnfahrt unschlüssig in der Manteltasche hin und her gerollt. Er freute sich an seinem Richteramt, auch der Umgang mit den Beisitzern fiel ihm nicht schwer, und – auf ganz existenzielle Weise – freute er sich zu wohnen, wenigstens zeitweise, wenigstens versuchsweise. Er hatte den kleinen

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