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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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Sie wissen doch, in unserer Stadt sind 80 Prozent des Wohnraums zerstört. Ich weiß, antwortete Kornitzer, nicht nur Wohnraum. Und dachte: Auch Empfindungen, 80 Prozent Mitleid konnte er sich als eine Summe nicht genau vorstellen. Insgeheim hatte er erwartet, das Wohnungsamt wäre in der Lage, Zimmer und Wohnungen zu requirieren, das hatte die Besatzungsmacht für ihre eigenen Ansprüche getan, am Rheinufer und in Mainz-Süd, wo es einigermaßen heil geblieben war, das hatte Kornitzer selbst gesehen. Aber für ein Opfer des Faschismus kam das nicht in Frage. Keine Extrawürste. Er wunderte sich auch über die divergierenden Zahlen zur Zerstörung, jeder schien seine eigene Übertreibung zur Hand zu haben, die vielleicht auch eine Untertreibung des Empfindens war. Daß er einen Berechtigungsschein hatte, daß er die lange Schlange der wartenden Wohnungssuchenden überholen konnte, war schon Vorrecht genug. Es gab andere Probleme als die Zusammenführung eines Ehepaares.
    Also nichts zu machen?, drängte er noch einmal die Angestellte. Sie schüttelte den Kopf. Dann ging er fort und wußte nicht wirklich, wie er sich entscheiden sollte. Er war müde und wollte sich nicht entscheiden. Die Tage verschwammen in seinem Kopf, dann erreichte ihn ein Telegramm, das Claire in Lindau aufgegeben hatte.
Bleibe vorerst hier Stop Besuche dich Stop Claire
. Kornitzer hätte gerne gewußt, was sie bei dieser nüchternen Mitteilung dachte (und fühlte). War sie enttäuscht? Konnte sie sich die gewaltige Zerstörung der Stadt, die Hoffnungslosigkeit, so bald eine angemessene Bleibe zu finden, gar nicht vorstellen? Drängte es sie nicht, mit ihm das gemeinsame Leben wieder aufzunehmen?
    Man müßte sich jetzt an einem Tisch unter der Seidenschirmlampe gegenübersitzen wie früher in Berlin, das Für und Wider haarklein durchgehen, so wie sie gemeinsam seinen Weg in die Emigration besprochen hatten (oder vorher sein logistisch streng geplantes Bleiben, bis es nicht mehr ging), wie sie die Verschickung der Kinder besprochen hatten, haarklein abgewogen: Was sprach dafür? Die Sicherheit, in der die Kinder sein würden. Was sprach dagegen? Das geringe Alter der Kinder. Ihre Zartheit. Die Gefühle der Eltern. Also sehr, sehr viel. Und doch war die Entscheidung, die sie schließlich fällten, vollkommen rational, sie entschieden sich sozusagen wider Willen, gegen die Besorgnisse, auch gegen die elterlichen Gefühle. Sie tauschten Argumente aus, und so war am Ende alles gesagt, und sie waren sich mit Reden und Gegenreden vollkommen einig, auf eine zitternde ängstliche Weise einig, jeder von ihnen allein hätte eine solche rationale und den eigenen Empfindungen entgegengesetzte Entscheidung niemals treffen können. Gemeinsam waren sie stark, jedenfalls entscheidungsstärker, jedenfalls abstrakter in der Empfindung von Angst und der Abwehr der Angst. Es war ein Prozeß, der der genauen Erfassung der Wirklichkeit diente. Daß es bei aller Verzweiflung damals schön war, mit Claire so im Schein der Lampe zu sitzen und leise zu sprechen, damit die Kinder nicht wach wurden, daran dachte er jetzt. Er hätte auch jetzt gerne Claire angeschaut, er stellte sie sich vor wie in Berlin im Lampenlicht, nicht wie in den letzten Wochen bei den Spaziergängen in den grünen Wiesen über dem See, es gelang ihm einfach nicht, das gegenwärtige, spitz gewordene Gesicht in seinem Gedächtnis gegen das frühere auszuwechseln. Claire saß im Berliner warmen Lampenlicht in der schönen Wohnung in der Cicerostraße, er war ein junger, hoffnungsvoller Jurist (gewesen) und Claire eine Finanzfachfrau, die Geschäftsführerin einer feinen Firma geworden war, die früheren Besitzer hatten ihr vertraut und sie unter mehreren möglichen Kandidaten ausgewählt. Sie war dabei sehr gelassen, sie kannte nur Geschäftsführer und Steuerberater und ihre Mitarbeiter, aber das störte sie nicht, sie war gewappnet, bis an die Zähne mit Zahlen gewappnet, und lachte über seine Ängstlichkeit, ob sie „als Frau“ diesem Haifischbecken gewachsen war. Sie „als Frau“: das empfand sie als einen Witz. Natürlich war sie Frau, „und wie“, lachte sie ihn frech an, und wie. Stimmt!, lachte er zurück. Und sie gefiel ihm ganz unbändig, und sie war staunenswerterweise seine Frau geworden. Natürlich wußte er, wie es dazu gekommen war.
    Aber es war doch ein Wunder, wie jedes Glück wundersam ist und keine Frage nach dem Woher und Wohin stellte. Sie beherrschte das Metier,

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