Landgericht
Zahnhälsen im Unterkiefer, das Kornitzer schreckte, und dann geschah ihm etwas, was ihn sehr verwunderte, etwas, das ihm noch nie geschehen war: Über der Prothesenhand, dem angewinkelten rechten Arm sah er einen zweiten Arm sich in die Luft recken, einen zweifellos eingebildeten Arm, der mit dem Hitlergruß grüßte. Jetzt, schoß es Kornitzer durch den Kopf, werde ich verrückt. Aber er ruckelte sich bald wieder zusammen, keineswegs wurde er verrückt, es war nur ein Bild, das er vertreiben mußte, so rasch, wie es ihm in den Kopf gekommen war. Ein flüchtiges Bild, das ihm den Blick auf die wirkliche Begegnung verstellte. Ein Gespräch, nur mit ein paar Höflichkeiten gepflastert, war ihm daraufhin nicht mehr möglich, er würde später, später Beck fragen, was denn das Spezialgebiet von Rechtsanwalt Damm sei. Die Herren verabschiedeten sich wieder, Kornitzer schloß die Tür, die Schreibkraft las ihm den letzten Halbsatz vor.
Am Nachmittag konnte er sich nicht wirklich auf das Aktenstudium konzentrieren. Er stellt sich die hochgewachsene Claire vor, wie sie in einer der vorstädtischen Gassen ging, eine Tür aufschloß, und es kam ihm vor, als müsse sie sich bücken am Türstoß, doch so groß, wie er sie in der Phantasie machte, war sie in Wirklichkeit nicht. Er fragte, bevor er das Landgericht verließ, nach Landgerichtsrat Beck, aber der war in einer Sitzung. Er wartete auf ihn und stellte seine Frage. Oh, Rechtsanwalt Damm ist ein Spezialist für alles, nichts Besonderes. Ich verstehe, antwortete Kornitzer; in Wirklichkeit verstand er nichts.
Am Abend fuhr er wieder hinaus in die Vorstadt, fragte sich jetzt zu der Gasse durch, in der zwei Zimmer frei sein sollten. Er gab sich einen Ruck, klingelte an dem angegebenen Haus, „Dreis“ stand auf dem Schild. Ein kleines Mädchen öffnete, er fragte nach dem Vater. Der ist noch in Gefangenschaft, platzte das Kind heraus, und dann kam die Mutter, eine bläßliche Frau mit kräftigen, dunklen Augenbrauen und einem vollen, aber zusammengekniffenen Mund. Er sagte sein Sprüchlein: Bei ihr seien wohl zwei Zimmer zu vermieten, ob er sie ansehen könne? Er zeigte ihr den Berechtigungsschein, den sie ernsthaft studierte. Oh, Sie sind Opfer des Faschismus?, sagte sie und wirkte erschrocken. Ja, sagte er einfach, und ich brauche eine Wohnung. (Der Berechtigungsschein wies ihn als Opfer aus.) Ich bin nicht die Vermieterin, das Haus gehört meinen Schwiegereltern. Aber Sie können mir doch sicher die Zimmer zeigen? Es ist nur ein Zimmer, das zweite ist schon vergeben an meinen Schwager. Aha, sagte Kornitzer, das hätten Sie aber dem Wohnungsamt melden sollen. Die Frau zuckte die Schultern, Kornitzer wußte nicht, ob es ein Schulterzucken war, das sich über eine Bestimmung hinwegsetzte, oder ob es eine wirkliche Obstruktion war. Kommen Sie, im zweiten Stock, aber auf der Treppe ist kein Licht. So faßte die Frau ihn einfach an der Hand und zog ihn ins Haus, das Kind folgte, sprang dann über zwei Stufen und drängte sich an ihm und seiner Mutter vorbei und rannte die Treppe hoch. Ich hol eine Kerze. Verbrenn dich nicht, rief die Mutter ihm nach. Es war Kornitzer angenehm, an der warmen Hand einer fremden jungen Frau eine Treppe hochzugehen, Stufe für Stufe, auf dem Treppenabsatz machte sie kurz Halt, als wäre ihr der Weg zu viel. Da trat oben das kleine Mädchen aus einer Tür, die Kerze in seiner Hand blakte, warf unruhige Schatten an die Wand. Feierlich sah es aus, als ginge es an der Spitze einer Prozession. Im flackernden Licht sagte die Frau: Ich habe noch kein einziges Opfer des Faschismus zu sehen bekommen. Das ist ein Fehler, sagte Kornitzer, und sogleich tat ihm sein belehrender Ton leid. Er wußte, daß er in ihren Augen ein Ausstellungsstück war, und es fiel ihm ein, daß seine Juristenkollegen einen solch einfachen Satz nicht über die Lippen gebracht hatten bei der Amtseinführung. Die Frau Dreis schaffte es auf Anhieb. Was konnte die kleine Frau in der Vorstadt dafür, daß ihr Blick verengt war? Er sah, wie sie die Unterlippe mit den Zähnen des Oberkiefers einkniff und ihn prüfend ansah. Auch das Kind sah ihn jetzt an im Kerzenlicht, als wäre er ein komischer Heiliger aus einer anderen Religion.
Hier ist das Zimmer. Die Frau löste die Situation auf, indem sie eine Klinke herunterdrückte und das Licht anknipste. Ein Schwall Kälte kam aus dem Zimmer, ungelüftete kalte Luft, er sah ein Bett, einen Nachttisch, ein Tischchen vor dem Fenster, das
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