Landgericht
Kindern in Berlin einige Male das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten vorgelesen. Etwas Besseres als den Tod findest du überall, hatte er betont. Und die Kinder sperrten Mund und Nase auf. Ob es der Esel war, der diesen bedeutsamen Satz geäußert hatte, daran konnte er sich nicht mehr erinnern, aber es hätte zu seinem störrischen Wesen, das anderswo etwas vornehmer Stoizismus genannt wurde, gut gepaßt. Etwas Besseres als den Tod findest du überall, und er war ein Zeuge dieses richtigen und im richtigen Augenblick zu zitierenden Satzes.
An den Oberbürgermeister der Stadt, an die ihm zugeordnete Betreuungsstelle „Opfer das Faschismus“ hatte er noch vom Dorf über dem See geschrieben:
Für Ihre frdl. Anfrage vom 13. ds Mts betr. meine Wohnung in Mainz danke ich Ihnen verbindlichst. Ich habe bisher noch keine Nachricht über den Zeitpunkt meines Dienstantrittes erhalten. Mit Rücksicht auf die Schwierigkeiten der Wohnungsbeschaffung schlage ich vor, daß ich zunächst für kurze Zeit allein dorthin komme. Dafür würde ich nur ein möbliertes Zimmer benötigen
. Genau so war es gekommen. Die freundliche Hoffnung auf eine komfortable Zweizimmerwohnung, auf eine Intimität zerschlug sich vor seinen Augen, ihm standen zwei Zimmer zu, von einer Wohnung war nicht mehr die Rede, aber auch die zwei Zimmer ohne Abgeschlossenheit, ohne Küche und Bad und ohne ein drittes kleines Zimmer für die inzwischen halbwüchsige Tochter gab es nicht. Damals noch aus dem Dorf hatte er weitergeschrieben:
Meine Frau könnte dann zusammen mit meiner 14jährigen Tochter, die ich in Kürze aus der Emigration zurückerwarte, einige Zeit später auch in die Stadt kommen, damit wir alsdann eine gemeinsame Wohnung beziehen. Wir sind dann insgesamt drei Personen. Dafür benötigen wir unter voller Würdigung der Wohnungsnot: ein Schlafzimmer für meine Frau und mich, ein Zimmer für meine Tochter (dieses kann auch kleiner sein) und ein Arbeitszimmer für mich (das zur Raumersparnis auch gleichzeitig das gemeinsame Wohnzimmer sein kann). Meine Frau will den Haushalt zusammen mit meiner Tochter ohne Hilfe besorgen. Es ist also nur noch eine Küche nötig. Wir haben hier nur einige wenige eigene Möbel, insbes. gar keine eigenen Bettstellen
.
Meine vordringliche Bitte ist also gegenwärtig nur, daß ich bei Dienstantritt für mich selbst eine für die Arbeit erträgliche Unterkunft finde. Das Weitere wird meine Frau, wie vorstehend angegeben, zusammen mit Ihnen beraten. Sobald ich nähere Nachricht für die Zeit meiner Ankunft habe, werde ich mich sofort melden
.
Mit nochmaligem Dank für Ihre freundliche Mühewaltung bin ich
Ihr sehr ergebener
Dr. Richard Kornitzer
Das war ein feiner, keinesfalls unbescheidener Brief, der die Schwierigkeit der Lage für die Stabstelle „Opfer des Faschismus“, den Oberbürgermeister und für das Wohnungsamt gleichermaßen bedachte, ein Brief, der die eigenen Bedürfnisse zurücknahm und die Größe der allgemeinen Probleme nicht in Abrede stellte. Ein einfühlsamer Brief, wie der Oberbürgermeister und seine Stabstelle ihn vermutlich nicht täglich bekamen. (War er deshalb erhalten geblieben?) Und gerade wegen seiner abwägenden Rationalität mußte er hinhaltend, höflich und beiläufig beantwortet werden, damit sich aus der verwaltungsgemäßen Freundlichkeit nicht genuine Ansprüche ableiten ließen, das war Kornitzer klar. Und dann, als Kornitzer eigentlich doch befriedigend geendet hatte, fügte er der Ordnung halber ein P. S. an:
Ich bemerke, daß ich noch einen 17jährigen Sohn habe, der sich ebenfalls seit 10 Jahren in England befindet, aber vorerst noch dort bleiben soll
.
Bleiben und Nichtbleiben waren in einem empfindlichen Gleichgewicht. Claire blieb vorerst, er konnte ihr nichts Besseres raten, an ein Kommen von Selma war ohne eine entsprechende Wohnmöglichkeit nicht zu denken, das Bleiben von Georg war gar nicht in Erwägung gezogen worden. Richard Kornitzer hatte sich, zurückkehrend auf dem Schiff und bei der langwierigen Bahnreise von der Nordseeküste an den Bodensee, immer einen Tisch vorgestellt, um den er die Familie versammeln wollte, einen Tisch, der ihm viel wichtiger erschien als Betten, als eine Küche, als alles, was „Wohnen“ ausmachte. Würden erst Claire und er, würden sie beide erst mit Georg und Selma um einen Tisch herum sitzen (im Schein der Seidenlampe oder in Erinnerung an die Seidenlampe, auf die es auch in Wirklichkeit nicht ankam), dann wäre alles gut.
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