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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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Es gäbe einen Anknüpfungspunkt an die Zeit vor der Zerstreuung, vor der Zertrümmerung der kleinen Familie, die Claire und er mit eigenen Händen vornehmen mußten. (Als hätten sie sie zerhämmert, wie man Porzellan zertrümmern kann, aber es doch nicht wirklich will, es sei denn symbolisch: am Vorabend einer Hochzeit.) Von einer Wohnung war nicht mehr die Rede. Aber auch die zwei Zimmer ohne Abgeschlossenheit, ohne Küche und Bad und ohne ein drittes kleines Zimmer für die inzwischen halbwüchsige Tochter, gab es nicht. Da war nichts zu machen, was Deutschland zertrümmert hatte, hatte auch seine Nachkriegs-Pläne zertrümmert. Und er war mit viel Optimismus gekommen, mit Plänen, nur fehlte es an einem Feld, an Strategien, diesem Optimismus eine Bahn zu brechen, und so brach von seinem Optimismus Stück für Stück, schmolz in einer Lache dahin. Und was schmolz, war nicht der Rede wert. Es stand in keiner Relation zu den „wirklichen“ Problemen, die zu lösen er angetreten war.
    Er zog zu den Dreisens, mit einem Koffer, und bat darum, am Klingelschild seinen Namen anzubringen, denn er erwartete Post, vermutlich viel Post, von den in Kuba gebliebenen und den in alle Winde zerstreuten Freunden, den Mitemigranten – und natürlich von Claire aus der milden Bodensee-Landschaft, in der sie so fremd war wie ein preußischer Meteorit. Die junge Frau Dreis (wo war die alte Frau Dreis, wenn er an den unteren Zimmertüren klopfte, immer im Garten, klopfte sie Steine? Er sah sie selten.) schrieb in netter Handschrift ein kleines Pappschild „Dr. Kornitzer“ und brachte es so neben dem Dreis-Schild an, daß jeder Blinde begreifen mußte, wer der Besitzer des Hauses und wer untergeschlüpft war. Was sollte Kornitzer dagegen haben, er war ja auch wirklich untergeschlüpft. Er wollte nicht wegen einer solchen Kleinlichkeit gekränkt sein, er wollte sich überhaupt nicht kränken lassen. Das hatte er sich vorgenommen.
    Das familiäre Haus hatte eine gewisse Dynamik. Nun ja, wie ein Bienenkorb, dachte er manchmal, wenn er abends an seinem Tisch saß, dem Tisch, den er sich gewünscht hatte, oder er dachte: Türenschlagen. Viel Wind um nichts. Oder er korrigierte sich: Viel Lärm um nichts. Das kleine Mädchen – er hatte es gefragt, und es hatte ihm strahlend seinen Namen genannt: Evamaria – polterte im offenen Treppenhaus, rutschte kreischend vor Vergnügen das Treppengeländer hinunter. Das Treppengeländer war sein liebstes Spielzeug, viel anderes hatte es nicht, die junge Frau Dreis klapperte in der Küche mit Töpfen und Sieben und Emailleschüsseln. Die alte Frau putzte am Wochenende die Treppe und stieß mit dem Schrubber an die Treppenstufen, das ergab einen hohlen Ton. Herr Dreis sägte im Garten Holz. Er hatte keine gute Säge, ein Knirschen und Raspeln, ein schmerzhafter Kompromiß zwischen dem schartigen Sägeblatt und dem frischen, biegsamen Holz, aus dem fast noch Saft spritzte, wenn man einen Zweig herunterbog und prüfte. Den Sohn der Familie, seinen Zimmernachbarn, sah er nur flüchtig, er war außer Haus, auch häufig in der Nacht, rumorte dann frühmorgens in seinem Zimmer. Brauchte er das Zimmer überhaupt?, fragte sich Kornitzer staunend und schluckte den kleinen Groll hinunter. Er wollte Claire bitten, ein Wochenende zu ihm zu kommen, unterließ es aber doch. Er wollte nicht, daß sie sich, dauernd krank, in der Waschküche wusch. Oder: Er wollte nicht, daß sie, durch die Kälte gegangen, geflüchtet, ihre offenen Wunden an den Füßen fremden Menschen zeigte, Menschen, die ihm nicht mehr so fremd waren. So versprach er, bald an den Bodensee zu kommen, bestimmt, aber der Arbeitsaufwand im Landgericht ließ eine Reise mit verspäteten, überfüllten Zügen nicht zu.
    Die alte Frau Dreis hatte ihm fürsorglich eine weiße Decke auf den Bügeltisch aus der Waschküche gelegt. Der Aufwand mit der weißen Tischdecke war eher irritierend für Kornitzer. Abends breitete er Akten auf diesem wackligen, altersschwachen Tisch aus, brütete über der Aktenlage für den morgigen Tag. Und es hätte ihm nichts ausgemacht, einen feuchten Kringel von einem Glas Most oder einer Tasse Tee auf dem Holz zu hinterlassen, das wäre eine kleine vernünftige Veränderung der Ausgangssituation gewesen, nicht befriedigend, aber doch verständlich. Etwas geschah, etwas veränderte sich unmerklich, Gebrauchsspuren, Zeit verging, und das war eine vertraute Sache: Die eine Behelfssituation wog die andere auf. (Sie, die

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