Landgericht
selbst zur Ordnung bei dem Gedanken rufen; ja, er verbat ihn sich: Er sah für sein Empfinden dem jungen Goebbels ähnlich, so weit sich Kornitzer noch an eine Bildlichkeit erinnerte. Kornitzer hatte gehört, daß er häufig spätabends erst die knarzende Treppe heraufschlich und sich bemühte, wenig Lärm zu machen. Und Evamaria öffnete die Tür im ersten Stock und trompetete: Benno kommt! Das war ein Kinderglück und eine erwachsene Irritation zugleich. Er kam spät und ging früh. Warum? Eine Arbeit hatte er nicht, es gebe keine Arbeit für ihn, sagte er. Er ging und kam, wie es ihm tunlich erschien. Alles roch danach: Er machte dunkle Geschäfte. Und wenn er kam, blinkerte auch seine Mutter nervös mit den Augen, als gäbe es etwas zu sehen, als müßten die Augen von Mutter und Sohn sich rasch auf ein Versteck einigen. Ein Akt, der dem neuen Mieter möglichst verborgen bleiben sollte. Kornitzer empfand die plötzliche Hektik und sagte sich: Ich bin nicht die Polizei, ich urteile nicht über Eier- und Kohlendiebe, ich bin auf einer höheren Stufe angekommen. Und er empfand das Landgericht als ein atmendes Organ, einen Blasebalg. Es dehnte sich, zog Fälle an sich, beatmete, behauchte, bearbeitete sie, und wenn sie nicht für seine Kiemen (Kammern) taugten, spie es sie wieder aus. Insofern war er endlich am richtigen Platz, so fremd ihm der Platz auch erschien. Und wenn er sich sehr mutig fühlte, zum Beispiel morgens in der Trambahn zwischen den Frauen, die zum Steineklopfen fuhren, und den Arbeitern und Arbeiterinnen, die zur nahezu unzerstörten Waggonfabrik fuhren, zur Essigfabrik oder zur Schuhwichsefabrik, dachte er, der richtige Platz, an dem er war, verändere die falschen Menschen, sie begriffen, warum er „so“ hier war und keine Kommentare zu seinem Hiersein geben wollte.
Was Benno, den Sohn seiner Vermieter betraf, sagte er sich: Er ist noch jung, ein halbes Kind, aber auf merkwürdige Weise verhärtet. Benno war aus keiner Gesellschaft ausgestiegen und offenkundig an keiner neuen Gesellschaft interessiert. Etwas ging für ihn weiter, das namenlos war. („Das Leben geht weiter“ war eine dumme Formel, wenn es für so viele nicht weitergegangen ist.)
Benno steckte sich zwischendurch eine ziemlich kostbare Zigarette an (jedenfalls duftete sie so), während eine neue Pfanne mit Bratkartoffeln auf dem Herd schmurgelte. Kornitzer war dem Freund der Familie als „unser neuer Mieter“ vorgestellt worden, und er murmelte seinen Namen. Daß er promoviert war, daß er Landgerichtsrat war, spielte keine Rolle. Auch seine Kleidung war bescheiden, mehr als bescheiden, und das schien ihm angemessen. Er selbst hätte ein großes Pfauenrad drehen müssen, hätte von der sich entfaltenden Justiz, ja, von dem Ringen um Gerechtigkeit nach den Jahren des grassierenden Unrechts sprechen müssen, eine Predigt, er hätte von sich sprechen müssen, wie er verjagt wurde, wie er seine Frau verloren hatte und wie er sie wiedergefunden hatte (vielleicht), aber dazu bestand kein Anlaß. Es war in Ordnung zuzuhören, sich einzufinden in die Überlebensgemeinschaft des Stadtteils, in dem er gelandet war. „Wenn es uns gelingt, von der großen Herde der Andersdenkenden und Nichtdenkenden den einen oder den anderen fortzuziehen, dann halte ich das für ein kleines nützliches Werk“, hatte er an das Landratsamt am Bodensee geschrieben, als er zusagte, im Untersuchungsausschuß für die politische Säuberung den Vorsitz zu führen. Und so hatte man ihn angefordert mit Hilfe seiner Frau, so hatte man ihn eingestellt. So erwarb er sich Meriten. Und so kam ihm auch diesesb Essen als ein kleines nützliches Werk vor, abgesehen davon, daß er satt wurde. Die alte Frau Dreis nahm seinen Teller noch einmal in die Hand und legte ihm ein zweites Stück des faserigen Kaninchenfleisches auf und fragte: Auch noch Bratkartoffeln? Und er hatte keinen Grund abzulehnen, denn die Bratkartoffeln aus der großen, heißen Pfanne waren knusprig und wirklich sehr gut. (Wann hatte er zuletzt Bratkartoffeln gegessen? Das wäre eine Forschung, eine Gewissenserforschung gewesen, auf die es jetzt nicht ankam. Claire im Dachstübchen in Bettnang konnte nicht brutzeln.) Und Frau Dreis war sehr großzügig, wie mit der Tischdecke, so mit den Bratkartoffeln. Kornitzer bedankte sich, indem er dauernd nickte und dann doch auf seinem Teller die Bratkartoffeln zu einem breiten, befriedigenden Hügel zusammenschob, damit sie warm blieben und ihn auch innerlich
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