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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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ausschlagen kann. Und dann wollte sie eigentlich nichts mehr denken und auch ihren Empfindungen nicht mehr vertrauen, sie spürte ihre Erschöpfung nach der langen Reise, die nur das Ziel hatte, hier, hier zu stehen, den Kindern gegenüber.
    Vor dem Bahnhof stand der Bauer, Mr. Hales, ein freundlicher Mann mit einem Lächeln und großen Pranken, der sie einfach umarmte, die Frau, die ihre Kinder besuchte, die er und seine Frau adoptieren wollten. Das tat gut. Er sagte nichts, sein Englisch war nicht gefragt, und Claire war ebenso stumm, sprachlos, wörterbuchlos, man konnte nicht blättern und einem Fremden gleichzeitig in die Augen schauen. Es war eine dramatische Situation, die im Bauernhaus milder wurde.
    Claire wurde in die Küche geführt, es war ein großer, länglicher Raum mit einer dunklen Holzbalkendecke. Er war beherrscht von einem Tisch mit gedrechselten Beinen – er erinnerte an einen Billardtisch – und einem riesigen Ofen, größer als ein Bett, Claire sah Auslässe mit Gasflammen, aber der größere Teil wurde mit Holz geheizt, ein Schiff, in dem Wasser erhitzt wurde und durch einen Kranen praktischerweise gleich in Kannen und Töpfe gefüllt werden konnte. Der Tisch war mit einer zart geblümten Baumwolldecke gedeckt, Teller aus Steinzeug, über deren Rand Blütenranken lappten. Eine Tür führte in eine Milchkammer, hinter der man das Malmen und Stampfen der Kühe hörte, und man roch sie auch in der Küche. Fette Stubenfliegen kreisten um die Lampe, klopften an die Fensterscheibe und schwirrten in die Wärme zurück. Claire wurde auf ein ausgesessenes Sofa genötigt, ein Kissen wurde ihr überreicht, damit sie am Tisch etwas höher säße. Auf der Wand gegenüber sah sie ein Bild mit Rindvieh auf einer Weide.
    Mrs. Hales hatte gekocht, ein Pulk von Halbwüchsigen und jungen Erwachsenen saß da, ihre eigenen Kinder, Knechte und landwirtschaftliche Lehrlinge. Es war ein großer Hof und eher wie ein Gut organisiert, ganz anders als die Höfe über dem Bodensee. Georg und Selma schienen mit allen gut Freund zu sein. Es wurde viel gescherzt, immer prustete einer am Tisch auf vor Lachen, stupste oder lehnte sich herzlich, ja vielleicht übertrieben herzlich gegen einen anderen. Und ein großer Hund legte sich wie ein wollener Teppich zwischen Tisch und Ofen, so daß Mrs. Hales und die Mädchen, die ihr halfen, um ihn herumgehen mußten, wenn sie das Essen auftrugen. Manchmal brummelte der Hund, wollte offenbar etwas zur Unterhaltung beitragen, und dann legte er das Kinn flach auf den Fußboden, in grenzenloser Gemütlichkeit. Die Augen fielen ihm zu. In Bettnang blieben die Dorfhunde im Hof, niemand kam dort auf den Gedanken, den Hund zu einem will-kommenen Familienmitglied zu machen. Vielleicht war das Ganze ein Familientheater, ein in die Zukunft weisendes Adoptivtheater, um ihr, der Deutschen, der fremden Mutter, klarzumachen, hier ist alles in Ordnung, hier geht alles seinen guten Gang. Und nur Sie stören, hauen Sie wieder ab.
    Am späteren Abend begriff sie schon, daß nicht nur gegen sie geredet und gehandelt wurde, obwohl sie bequem saß. Sie verstand
German bombs, destruction
, als wären die Geschwader mit ihrem persönlichen Einverständnis geflogen. Sie verstand den Konflikt: Die Familie hatte kurz nach der letzten Kriegsphase in der Verarmung und Rationierung deutsche Kinder aufgenommen, die sich wie alle Engländer unendlich gefürchtet hatten vor deutschen Angriffen. Alles Deutsche war verhaßt, schädlich, feindlich, gefährlich. Und da Deutschland der Feind war, den man mit aller Kraft zurückschlagen mußte, konnten die deutschen Kinder auch nicht mit übermäßig viel Sympathie rechnen. Daß sie Juden waren, daß sie Feinde des Feindes waren, war ein Spezialwissen, das sich vielleicht in London verbreitet hatte, aber nicht in jedem Winkel von
Great Britain
. Etwas anderes wäre es gewesen, die Kinder hätten in dem Zusammenhang, indem sie nun einmal lebten, tapfer und energisch gesagt, sie seien Juden, sie wollten nicht zur Kirche gehen und man solle sie mit allem Möglichen in Ruhe lassen. Doch das konnten sie nicht, denn sie waren keine Juden, weil sie sich nicht als solche fühlten. In Wirklichkeit waren sie NICHTS. Aber so waren Kinder nun einmal, sie wollten sich nicht unterscheiden, auch nicht NICHTS sein, aber das war ein schwieriger Gratgang. Nichts war wirklich NICHTS, NICHTS war keine Einladung, eher eine grundsätzliche Abweisung jeglichen Mitgefühls. Wenn sie anders

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