Landgericht
öffentlich erklärt hatte:
Die deutsch-jüdischen Flüchtlinge zur Rückkehr nach Deutschland zu zwingen, wäre ein Akt so kaltherziger Grausamkeit, daß sich der gute Name Britanniens und sein stolzer Ruf, das Asyl der Verfolgten zu sein, niemals davon erholen könnten
. Die Hales würden es nicht verstehen, auch wenn sie die Sprache verstünden, sie würden es in ihren Gefühlen nicht verstehen. Auf ihre Weise verstanden sie etwas ganz anderes: daß Claire und Richard die Kinder nicht wirklich wollten, sonst hätten sie sich früher um sie bemüht. Aber was war „wirklich“?
Claire versuchte sich nützlich zu machen in der Küche, aber Mrs. Hales winkte ab, sie hatte die Dinge im Griff, die Milchkannen, die Schöpflöffel, die Siebe. Und auch Selma wußte, was zu tun war, die Pferde anzuschirren und auszuschirren, die Hühner zu füttern, die Eier aus den Gelegen zu holen, den Hühnerkot vorsichtig abzureiben, die Eier nach Größen zu ordnen. Claire ging durch die Felder, um nicht wie ein Fremdkörper im Haus zu sitzen. Sie sah Rudel von Fasanen, die vor ihr mit gravitätischem Ernst trippelten, ohne Scheu, sie hätte sie anfassen können. Sie hörte die knarrenden Stimmen der Buchfinken, sah die mageren, winzigen Wildkaninchen, Horden von Kaninchen, die sich um die Fasane nicht scherten und in die Hecken sprangen, darüber feudales Zaunkönigsgelächter. Sie sah weite Weizenfelder, die schweren Kornähren am Halm, fette Wiesen und blühende Böschungen, der Wind schlug hinein, sie ging mit stadtfeinen Schuhen, sie hatte keine anderen, nein, sie gehörte nicht hierher. Als sie zurückkam ins Gutshaus und nach Selma fragte, bedeutete man ihr, sie sei im Pferdestall. Claire betrat den Pferdestall und wußte, sie war da nicht wirklich willkommen, kein Fremder ist in Ställen willkommen, das hatte sie in Bettnang auch gemerkt. Die meiste Arbeit in der Landwirtschaft wurde noch mit Pferden verrichtet, Traktoren waren selten. Da sah sie Selma, wie sie eine große braune Stute umarmte, und die Stute schmiegte sich an. So leidenschaftlich hielt Selma sie umhalst, daß es Claire einen Stich gab, als erwarte ihre Tochter all die Mütterlichkeit, die sie entbehrt hatte, von diesem Arbeitspferd, das schwere Wagen ziehen konnte. Es war erleichternd, daß Selma nicht sah, wie ihre Mutter sie beobachtete. Im oberen Stock fand sie Georg an seinem Tisch sitzen, vor sich hatte er mehrere kleine Kästchen mit Schrauben und Metallschienen, er hantierte mit einer Metallsäge und feinen Schraubenziehern, griff rasch und gezielt in die Schraubenhäufchen, sah kurz auf und nickte ihr zu, als er spürte, jemand war in die offene Tür getreten, dann arbeitete er weiter.
Claires Abreise war leis, klamm, es war ihr, als ginge ein Aufatmen durch das große Haus. Als schnaubten die Kühe, als scharrten die Pferde. „Unverrichteter Dinge“, dieser Begriff kam ihr in ihren leeren, traurigen Kopf, nein, „unverrichteter Menschen“ konnte man nicht sagen, über sie und über ihren Mann war gerichtet worden, und anders als bei einem wirklichen Prozeß hatten sie keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Claire reiste nach Mainz, ohne links und rechts zu sehen, kam sie im Landgericht an, fragte sich durch, und da war sie: in der Geschäftsstelle der Zivilkammer, in der ihr Mann gerade etwas diktierte. Es war nicht sehr tröstlich, ihm von der fehlgeschlagenen Reise zu erzählen. Er kaute, um seine Erregung zu verbergen, an seinem inneren Backenfleisch. Ein Bote kam und brachte ein Schriftstück, das er umständlich von einem Wagen holte, aus den Augenwinkeln beobachtete er die Frau, die nicht in das Gericht gehörte. Er glotzte so begierig, als erwarte er, daß der Landgerichts rat, ihm, dem Justizangestellten, die Frau, die zu einem offenbar ganz unpassenden Zeitpunkt hineingeschneit war, vorstellte. Das Telephon klingelte nebenbei. Schließlich führte Richard seine Frau in ein Café in der Nähe des Domes, als sie dort hemmungslos zu schluchzen begann, zahlte er rasch und herrenhaft an der Theke, ging mit ihr zur Rheinpromenade, ging auf und ab mit ihr, sie schien auch den Fluß nicht wirklich zu sehen, sie ging mit trippelnden Schritten, er führte sie fast, während sie stockend berichtete.
Mr. und Mrs. Hales versuchten nach Claires Abreise, Georg und Selma klarzumachen, daß sie natürlich weiter bei ihnen leben könnten, gleichgültig, ob sie adoptiert werden könnten oder nicht. Nichts würde sich ändern, und es wäre vollkommen
Weitere Kostenlose Bücher