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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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waren, wenn sie sich unterscheiden mußten, schämten sie sich zu Tode. Also lieber genau so sein wie die englischen Kinder, und ohne Akzent und fehlerfrei sprechen. Und nun kam sie, Claire, und rührte eine alte Geschichte auf und wollte die verängstigten, traumatisierten Kinder die ja keine Kinder mehr waren, die sich prächtig entwickelt hatten, so daß es eine Freude war, wenn sie nach der Arbeit auf dem Hof am Tisch aus Walnußholz saßen, nach Deutschland holen.
    Georg, der am ruhigsten blieb am Tisch zwischen dem Giggeln und Gackern, den Frotzeleien, zeigte ihr am anderen Tag Zeugnisse, und indem er sie zeigte und indem Mrs. Hales beim Porridge überaus freundlich lächelte, begriff sie: Das waren gute Zeugnisse, auf die Georg stolz war und Mr. und Mrs. Hales auch. Bald würde er seinen Abschluß machen, dann wollte er studieren. Ohne viel Aufhebens davon zu machen, erklärte er das, und Claire verstand seine Gewißheit ohne viele Worte. Sie bedeutete ihm, ob auch Selma, die der Mutter ausgewichen war, etwas zeigen wolle. Georg tat zuerst so, als ob er seine Mutter nicht verstünde, aber dann holte er Selma doch, die mit nackten, schmutzigen Füßen von draußen kam, Füßen, vor denen Claire eigentlich graute (Kuhmist?). Ein Zeigen hin und her, von den Zeugnissen zum Mädchen, vom Bruder zur Schwester, vom Zimmer zur Treppe, knappe Befehle, Bitten, so schien es Claire, und dann hatte wohl Selma endlich begriffen, was der Bruder von ihr wollte,
something personal
. (Oder mußte er sie überreden, überhaupt irgendetwas der Mutter zu zeigen? Kontakt aufzunehmen?) Sie blieb lange aus und kam verlegen wieder. Was sie in der Hand hatte, waren keine Zeugnisse, sondern etwas Großformatigeres, Aquarelle von Landschaften, Pferdebilder, ländliche Szenerien, und sie zeigte mit einer unschuldigen, aber auch schmutzigen Hand auf sich selbst. Es war taktvoll von Mr. und Mrs. Hales, Claire am späten Abend allein zu lassen, in einem zwar kalten, aber hell erleuchteten Zimmer mit flattrigen Gardinen und einem Fenster, das auf die Weiden schaute, in einer erhabenen ländlichen Ruhe, in der nur Fliegen summten. Ja, das war sehr gut, eine Beruhigung in dem inneren Aufruhr. Aber Selma schrieb spätabends in ihr Tagebuch:
It was an immense shock to be confronted with a strange woman and told that she was my mother. I didn’t recognize her at all. Georg and I went to the station to meet her off the train. What on earth had this big fat woman to do with me?! She couldn’t speak a word of English, I couldn’t speak German and I didn’t want to talk with her. She wanted to pull me to her and hug me but I couldn’t bear her touching me
. Und das war etwas, was ihre Mutter nie erfahren sollte, aber auf Anhieb spürte.
    Tage voller Spannung, voller Mißverständnisse, Tage, die keine Sprache hatten oder immer die falsche. Mr. und Mrs. Hales strahlten die Empfindung aus: Warum kommen Sie erst jetzt? Jetzt sind die Kinder fast erwachsen, und sie sind heimisch hier. Auf diesen wortlosen Vorwurf konnte Claire nicht antworten. Daß sie keine Reiseerlaubnis der französischen Besatzung bekommen hatte, die Kinder auf eigene Faust zu suchen, daß die jüdischen Komitees sich zunächst um diejenigen Kinder kümmerten, die in Heimen lebten und elternlos geworden waren, daß sie auch den leisen Verdacht hatte, ihre Kinder, die nur einen jüdischen Vater hatten und keine jüdische Mutter, würden von den Komitees als Flüchtlinge zweiter Klasse behandelt, was ging das diese freundlichen Leute an? Claire hatte kurz nach dem Kriegsende gelesen, daß die Militärregierung der Britischen Zone, die
Control Commission for Germany
unter General Brian Robertson, es ganz entschieden abgelehnt hatte, solange das
Displaced Persons
-Problem nicht gelöst sei, irgendeine Verantwortung für zurückkehrende
refugees
aufgebürdet zu bekommen. Die Versorgungslage ließe dies nicht zu. Und die Verwaltung in der französischen Zone dachte überhaupt nicht an Rückkehrer, denn aus Frankreich hätten keine Emigranten zurückkommen können. Die Pétain-Regierung hatte in bester Zusammenarbeit mit Hitler-Deutschland seit 1940 den deutschen Flüchtlingen das Leben zur Hölle gemacht, sie in Lager gesperrt oder an Deutschland ausgeliefert, so daß die letzten Flüchtlinge in Schlupflöchern über Marseille oder illegal über die Pyrenäen entkamen. Die Hales konnten auch nicht wissen, was der britische Verleger und Sozialist Victor Gollancz, selbst Jude, 1948

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