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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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übergesiedelt, und nun lebten sie seit vier Jahren, also etwa seit Kriegsende, bei einer dritten Familie in einem Dorf in Suffolk. Diese Familie, so stand es in dem Brief, habe den Wunsch geäußert, Georg und Selma zu adoptieren. Doch das sei nur möglich, wenn Gewißheit darüber herrsche, daß die Eltern der Kinder tot seien. (Oder aus Mangel an Gewißheit für tot erklärt werden müßten.) Die nüchterne Anfrage nach dem Überleben, dem eigenen und dem ihres Mannes, machte Claire auf einen Schlag lebendig, aber nicht gesund.
    Es war eine gewaltige strategische und logistische Arbeit, die die jüdischen Hilfsorganisationen vor dem Krieg und die das Internationale Rote Kreuz zusammen mit ihnen seit dem Kriegsende leisten mußten. Zehntausend Kinder waren 1938/1939 nach England gebracht worden, orthodox erzogene jüdische Kinder, Kinder aus liberal jüdischen Häusern, Kinder, die kaum etwas von ihrem Judentum wußten, und solche wie Selma und Georg, die die Rassegesetze erst gegen den Willen ihrer Eltern zu Juden gemacht hatten. Längst nicht alle konnten in eine Situation vermittelt werden, die halbwegs den früheren Erziehungszielen entsprach. Für viele Kinder, besonders die offenkundig traumatisierten, fand sich keine Pflegefamilie, sie wurden in Heimen untergebracht, und natürlich waren jüngere Kinder beliebter als solche, die die Verfolgungen ihrer Eltern hautnah erlebt und verstanden hatten. Ältere Jungen waren mit ihren Vätern nach den Novemberpogromen in die Konzentrationslager verschleppt worden, manche wurden nur freigelassen, weil für sie gefälschte Aufnahmepapiere der University of London vorlagen. Dann fiel Paris, und Hitler drohte England mit einer Invasion. In der Folge wurden alle Deutschen in England in Lagern interniert, hochqualifizierte deutsche Oxford-Professoren und auch diese älteren Jungen. Als Glück galt es, nur in Liverpool oder irgendwo in einer aufgelassenen alten Fabrik zu sein, 1.200 Männer in einer Halle, ein atmendes, schnaufendes, ächzendes Knäuel. Oder sie landeten in einem Zeltlager; in Viererzelten mußten acht Männer und Jungen liegen, die Füße im Freien. Wenn sie Pech hatten, wurden sie nach Australien deportiert. Den Traum von der University of London oder ihre Sehnsucht nach einem geordneten Studium konnten sie zwei Jahre lang durch den Stacheldraht betrachten.
    Ursprünglich hatte die Jewish Agency geplant, jüdische Kinder nach Palästina in Sicherheit zu bringen, aber die britische Regierung, unter deren Protektorat Palästina stand, erlaubte dies nicht. Mit Rücksicht auf die arabische Bevölkerung sollten keine weiteren Flüchtlinge ins Land gebracht werden. So blieb England … Niemals hätten Claire und Richard Kornitzer ihre Kinder nach Palästina reisen lassen, hingegen England, ein so kultiviertes Land, das Claire und Richard aus der Ferne bewundert hatten. Für Georg und Selma und die anderen Kinder, die ohne ein wirklich jüdisches Familienleben aufgewachsen waren, erklärten sich die Quäker zuständig, aufrechte Leute mit einem sozialen Gewissen und zupackenden Händen. Leute, die ihr Christentum eher mit Schaufel und Spitzhacke und mit einer Suppenkelle praktizierten, bevor sie ins Gebetbuch schauten. So schien es. So war es Richard und Claire Kornitzer sympathisch, als sie der Hilfsorganisation der Quäker die Kinder anvertrauten.
    Seit dem Kriegsbeginn hatte Claire Kornitzer den Kontakt zu den Kindern verloren, ein Briefwechsel zwischen England und Deutschland war unmöglich. Selma und Georg hätten noch fünfundzwanzig Wörter im Monat schreiben können auf Formulare des Roten Kreuzes und ebenso viele oder so wenige Wörter hätten sie zurückerhalten dürfen, aber das wußten sie nicht, oder die Pflegeeltern hatten kein Interesse daran, es ihnen mitzuteilen. Viele deutsche Eltern beklagten sich über die Untreue ihrer Kinder, solange sie das noch konnten. Aber warum die Kinder nicht schrieben, wußten sie nicht. Richard hatte ihnen noch von Kuba aus geschrieben, vage, hoffnungsvoll formell, er hatte keine Ahnung, was die Nachrichten über die Bombardements englischer Städte durch die deutsche Luftwaffe für Georg und Selma bedeuteten, die von ihren Eltern in eine trügerische Sicherheit gebracht worden waren und noch zu klein waren, diesen Betrug (die Kehrseite des Trügerischen) zu begreifen, bis der Kontakt durch den Wechsel der Pflegefamilie abbrach. Was Georg mit sieben, acht Jahren von den Briefen des Vaters buchstabieren konnte, ob

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