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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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ihm jemand dabei half, wußte Kornitzer nicht. Das war schmerzlich, aber auch erleichternd. Was hätte er den Kindern schreiben, welche unrealistischen Hoffnungen machen sollen? Was von der Mutter schreiben, die er durch die Briefzensur-Sperre nicht mehr erreichen konnte, von der er auch nichts wußte? Nichts hätte er ihnen schreiben können außer Lügen, galliger Schwärze oder billigem Trost. All das war vollkommen ungeeignet, hatte mit der Lebenswirklichkeit der Eltern ganz und gar nichts zu tun. Insofern war das auferlegte Schweigen, der Abbruch des Kontakts, das vage Driften der Gefühle das Richtige.
    Die Kinder sind gefunden worden. Claire telegraphierte sofort ihrem Mann in Mainz, die Kinder, die Kinder sind gefunden worden, die Nachricht versetzte sie in helle Aufregung, eine Sehnsucht, eine Erwartung, etwas Gewaltiges geschah mit ihr, für das sie keinen Namen hatte, es war feierlich und demütig zugleich. Sie schrieb einen Brief an das Rote Kreuz, und jemand in der Molkerei half ihr, einen Brief an Georg und Selma auf Englisch zu schreiben, alles in einer fliegenden Eile. Sie durchforstete das Lexikon, legte Wörterlisten an,
home, please, come home, parents, foster parents
, tastete nach allen möglichen Fragen, die sie den Kindern stellen wollte. So viele Jahre waren verloren, ausgelöscht, wie häufig hatte sie gegrübelt, ob es „richtig“ gewesen war, die Kinder nach England zu schicken. Sie hatte gehofft, ihrem Mann nach Kuba nachfolgen zu können und dann die Kinder nachkommen zu lassen, alles war ein großes NACH, eine Hoffnung, vielleicht von Kuba in die USA reisen zu können. Für die Kinder wären die englischen Jahre von Vorteil. Aber der Ausbruch des Krieges hatte alle diese Wunschträume zunichte gemacht, Schnee vom vergangenen Jahr. Ihr Mann hatte zu ihr in der Dachkammer in Bettnang über seine Emigration lakonisch gesagt: Ich bin meiner Ermordung zuvorgekommen. Und sie konnte ihm nicht wirklich widersprechen.
    Claire reiste nach England, sie achtete nicht auf die Küste, sie sah das Meer nicht wirklich, sie war eine gespannte Sehne, sie wußte selbst nicht, wie sie es (traumwandlerisch?) schaffte, in London umzusteigen, durch die halbe Stadt von einem Bahnhof zum anderen zu finden, sie achtete nicht auf die gewaltigen Rolltreppen, die zu den Bahnsteigen führten, die buntgescheckte Menge, die sich darauf knäulte, die Ungetüme von Gepäckwagen, sie sah nicht den englischen Himmel, einen hellen Blütenblätterhimmel, in den die Baumkronen stachen, nicht die zackigen Bahnen, in denen die Schwalben flogen. Einige sausten pfeilgerade auf das Zugfenster zu und wichen erst im letzten Augenblick aus. Sie sah nicht die bis zum Horizont reichenden Kornfelder mit ihren wehenden Mähnen hinter den kleinen Bahnstationen. Das Licht fiel auf wirkliche Dinge. In Ipswich, das hatte man ihr auf einem Zettel notiert, mußte sie noch einmal umsteigen – in einen Zug mit nur zwei Waggons. Hecken flogen vorbei, Zäune, Rosenbeete auf den Bahnhöfen. Claire war eine exotische Reisende, die nicht wirklich in ein Abteil der
British Railway
paßte, das war offenkundig. Und sie spürte es, wie sie sonst fast nichts auf dieser Reise spürte. Sie hatte ihre Ankunftszeit angegeben, auf diese Ankunft lief alles hinaus, sie würde die Kinder wiedersehen. Die Ankunft war in ein magisches Licht getaucht.
    Da standen sie auf dem Bahnhof wie ein junges Paar, eng aneinandergelehnt, verschmolzen in einer Haltung: Uns kann niemand trennen. Georg hatte ein fein geschnittenes Gesicht, braune Augen und Haare und einen Schatten von Haarflaum über der Oberlippe. Er sah Claire ruhig und abwartend an und nahm ihr Gepäck auf, als würde er einen Sack Hühnerfutter schultern. Und sie dachte: Das ist Georg, mein Sohn, und er sieht mich nicht als seine Mutter, sondern mit meinem Gepäck als ein zu transportierendes Gut. Zuerst kam ihr in den Sinn: Er ist vernünftig, mein Sohn. Vielleicht hat er das von seinem Vater. Und da stand Selma neben ihrem Bruder, feste Beine auf der Erde, rotwangig und kräftig, mit einer schottisch karierten Bluse und aufgekrempelten Ärmeln. Das dunkle Kinderköpfchen, über das Claire so häufig gestreichelt hatte, war heller geworden, aschblond, sie hatte die grünen Augen ihrer Mutter, einen aufgeworfenen Mund mit schönen, regelmäßigen Perlmuttzähnen darin. Claire hatte noch einen Gedanken, bevor sie wirklich kapitulierte: Wie ein Pferd, dachte sie. Oder eher: Wie ein junges Pferd, das auch

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