Landgericht
Erleichterung, löste die Spannung, und alle am Tisch aßen, und das verband sie, wie löchrig sonst das Einvernehmen untereinander auch war. Kornitzer war für die Überlassung des Eßtisches und für diesen Käsekuchen unendlich dankbar. Er hatte, als er begriff, wie schwierig die Reise sein würde für eine staatenlose Minderjährige in Begleitung einer Engländerin, mit der sie nicht verwandt war, sofort fürsorglich Selmas Einbürgerung in Deutschland veranlaßt. Aus eigener Erfahrung wußte er ja, daß dies nur ein formeller Akt war. Er hatte ihn erfreut zur Kenntnis genommen. Ihm hatte dieser Akt den Weg in seine geregelte Berufstätigkeit gebahnt, also wäre er für Selma auch von Vorteil, glaubte er.
Irgendwann kam die junge Frau Dreis polternd die Treppe hinunter und nahm mit einem einzigen Blick die beklommene Gesellschaft im Wohnzimmer in Augenschein. Ihre hohen, unangemessen arroganten Augenbrauen schoben sich noch ein Stück höher. Glücklicherweise, das mußte Kornitzer denken, und er schämte sich fast, so zu denken, tauchte Evamaria nicht auf. Und indem er an das kleine Mädchen dachte, empfand er, um wieviel besser er in ein paar Wochen die kleine Hausbewohnerin verstand als seine eigene in die Höhe und Breite geschossene Tochter. Ja, sie war ein großes, kräftiges Mädchen, sie hatte Claires grüne Augen, aber sie hatte einen Widerstand, eine Angst im Gesicht, als lauere im Garten und in der Nachbargasse und auch im Kirchturm ein Werwolfgeschwader. Seine Tochter tat Kornitzer auch leid.
Kornitzer hatte ein Hotelzimmer unten in der Nähe des Bahnhofs für Claire und Selma reservieren lassen, nicht in dem Bunkerhotel, das wollte er Selma nicht zumuten, sondern ein altmodisches Haus, das teuer war, aber darauf kam es jetzt nicht an. Mrs. Hales wollte schon am Abend abreisen, so war es ausgemacht. Sie wollte Mainz (oder was davon übriggeblieben war) nicht sehen. Die ganze Gesellschaft brach zur Tramhaltestelle auf, und als die Tram kam, erstarrte Selma. Sie hatte noch nie ein solches Ungetüm gesehen. Kornitzer bemerkte, wie sie zitterte, als die Tram in Fahrt kam und den Berg hinunterkurvte, auf dem der höhere Teil Mombachs lag. Sich an einer Stange festzuhalten, zu vermeiden, an einen anderen Menschen zu stoßen, all das schien eine große Anstrengung für sie zu sein. Ja, man hätte sie einfach umarmen müssen, aber sie gegen ihren Willen zu umarmen, war bei einem so großen Mädchen auch ein Übergriff. Dann stand man auf dem Bahnsteig herum, peinigende zehn Minuten, der Zug hatte Verspätung, und es war eine Erleichterung, als er unter die stählernen Rippen kroch, die von der Hallenüberdachung übriggeblieben waren. Kornitzer dankte in fein ausgesuchten Worten Mrs. Hales für alles, was sie für Georg und Selma getan hatte, seine Worte schienen wie Wasser an ihr abzuperlen. Sie legte den Kopf schief auf den Mantelkragen und nickte kurz. Und Claire und Richard verstanden nicht wirklich, was Mrs. Hales Selma zum Abschied sagte, es war ein Flüstern, ein Räuspern, eine Tröstung, eine vielleicht magische Beschwörung der Vertrautheit. Aber Selma wirkte wie gelähmt.
Als der Zug abgefahren war, machte Kornitzer seiner Tochter Vorhaltungen, daß sie Mrs. Hales nicht dafür gedankt hatte, mit ihr nach Deutschland gereist zu sein. Darüber war Selma empört. Gegen ihren Willen war sie nach Mainz gebracht worden, von ihrem Bruder, den Hales-Kindern, den Tieren getrennt worden, und dafür sollte sie dankbar sein? Es war wie ein zweiter Kindertransport. Nur daß sie jetzt fast erwachsen war, zum zweiten Mal hatte sie die vertraute Umgebung verlassen müssen, zum zweiten Mal hatte sie es mit einer fremden Sprache zu tun, eine unendliche Kette von Anpassungsleistungen wurde von ihr erwartet. Am liebsten wäre sie weggelaufen, aber wohin?
Anderntags holt Kornitzer seine Frau und seine Tochter ab, wieder ein Café, wieder ein Gang zum Rhein, zu den Schiffen, als könne der mächtige Strom die schwierige Situation befrieden, alles fließt, viel Wasser den Rhein hinunter, ein Schiff tutet, die flachen Lastkähne, die Kohlen geladen haben, schippern Richtung Köln, Wäsche flattert auf dem Deck, der Vormittag stößt auf den Nachmittag, dazwischen viel freie Luft, das Hämmern auf einem Dachstuhl in der Nähe der Uferpromenade, plötzlich sieht Kornitzer den gußeisernen Schnörkel am Fuß einer Gartenbank, die Holzbretter darüber sind abmontiert worden, dann ist es Zeit aufzubrechen. Es schmerzt
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