Landgericht
hatten sich Puppen vorgestellt, die genügsam auf Stühlen saßen, keinen Lärm machten, auch keine Hungeranfälle hätten und keine Ausbrüche von Lebenslust. Und auch keine Fragen nach Mutter und Vater, und warum sie nicht weiter bei ihnen leben durften. Selma stellte viele Fragen, die ihr Georg, so gut er konnte, beantwortete. Vielleicht waren seine Antworten nicht immer richtig, vielleicht antwortete er nur, was ihm gerade einfiel, aber sie waren von großer Bedeutung für Selma, ein Halt und Lebensretter. Selma wirkte, als hätte sie ohne den Strohhalm, den die Hand und die Gewißheit des Bruders bedeutet hatten, gewiß nicht überlebt (sie konnte es sich jedenfalls nicht vorstellen). Ihr Bruder erklärte ihr all die Dinge, die sie verwirrt und erschreckt hatten. Mehr als den Bruder brauchte sie nicht. Sie hatte sich im Dürftigen eingerichtet.
Von Anfang an war im Pfarrhaus die deutsche Sprache verboten. In einem ganzen Satz mußte bei Tisch um Brot, um Milch gebeten werden. Es war nicht erlaubt, auf eine Schüssel zu zeigen, wenn sie einen Nachschlag haben wollte. Die Speise mußte auch mit dem richtigen Namen benannt werden. Schaffte Selma das nicht, wurde sie ohne Essen ins Bett geschickt. Und Georg stand ihr bei, indem er mitten in der Nacht die Treppe herunterschlich und in der Speisekammer stibitzte. Einmal sei er erwischt worden, und die Frau des Reverend habe ihn als
nasty German thief
beschimpft. Georg habe sich gewehrt, er sei kein Deutscher, er sei Jude, und sie seien nach England gekommen, weil sie keine Deutschen mehr sein konnten, aber das machte die Sache nicht besser. Es war eine Mutprobe, sein vor der Reise frisch erworbenes Wissen über seine Herkunft anzuwenden. So tiefe, dunkle Nächte waren das, Nächte wie Löcher, in die sie fiel, erzählte Selma, eine so grenzenlose Schwärze, von der sie als Stadtkind, das Straßenlampen und hell erleuchtete Fenster im Gegenüber gewohnt war, nicht die geringste Ahnung gehabt hatte. Sie mußte allein in einem Zimmer schlafen und hatte zu viel Angst, um in der Dunkelheit aufzustehen und zur Toilette zu gehen. Aber sie träumte, daß sie zur Toilette gegangen sei. Und sie beschrieb das blanke Entsetzen, die warme Nässe, als sie entdeckte, daß sie gar nicht auf der Toilette gewesen war. Als das Unglück entdeckt wurde, wurde sie von der Frau des Reverend geschlagen. Aber der Traum vom Toilettengang kam immer wieder, auch das Einnässen wiederholte sich. (Ob sich das Schlagen wiederholte, verschwieg Selma ihren Eltern. Sie antwortete einfach nicht auf diese Frage.) Nein, die Frau des Reverend und ihre Schwester hatten keine Freude an dem Kind. Der Reverend wiederum nahm die Kinder mit zu langen Spaziergängen, er lehrte sie die Namen von Bäumen und von Vögeln, er lehrte sie zu schauen, zu beobachten.
Es war ein Glück für die Kinder, daß sie eine Internatsschule der Quäker besuchten, auf andere Kinder trafen, die auch Flüchtlinge waren, ohne daß darüber geredet wurde. Sie liebten die Geländespiele, die Schulaufführungen, das große Gewühl der vielen Kinder, in dem es auf das Betragen eines Einzelnen nicht so sehr ankam, sie waren in der Menge gut aufgehoben. Als die Sommerferien 1943 begannen, hieß es in der Schule, Georg und Selma könnten nicht in das Pfarrhaus zurück, der Reverend sei schwer krank. Einerseits war es erleichternd, der Bedrückung zu entkommen, aber die leere große Schule – ohne die freundlichen jungen Lehrer, ohne die Mitschüler – war einfach öde. Selma und Georg nahmen die Mahlzeiten bei dem Schuldirektor ein, aber sie waren tagsüber auf sich selbst gestellt und vergingen vor Langeweile. Es sah aus, als hätte man sie auf einer einsamen Insel vergessen. So verstrichen die Ferientage, und je länger es dauerte, machte das Abgeschobensein auch Angst. Wenn die Frau des Reverend und ihre Schwester schon so hart waren, wie würde die nächste Pflegefamilie sein? Schließlich versuchte der Direktor die Kinder zur Beschäftigung anzuhalten, damit sie nicht auf traurige Gedanken verfielen. Sie bastelten, schnitten aus Zeitschriften Figuren aus, klebten sie auf Unterlagen, die sie passender fanden als die früheren. Georg interessierte sich für die Flugzeugtypen des
RAF Bomber Commands
, lernte die Namen auswendig, die schweren Bomber:
Handley Page Halifax, Short Stirling, Avro Lancaster
, und die leichteren und mittelschweren:
Vickers Wellington, de Havilland Mosquitos, Bristol Blenheim, Fairey Battle, Armstrong
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