Landgericht
Tochter, Selma kam nicht, die Pfempfles halfen am anderen Tag beim Suchen, aber es fand sich keine Spur von ihr. Claire fürchtete sich, die Polizei einzuschalten, sie fürchtete, das Jugendamt schaltete sich nach einer Vermißtenmeldung ein, sie fürchtete sich, man werfe ihr eine Verletzung der Aufsichtspflicht vor, sie fürchtete, man sperre Selma in ein Erziehungsheim. Es war eine Hölle für Claire, in die sie gestürzt war, eine Hölle aus Konflikten. Ja, Selma war ein schwer erziehbares Mädchen, so mußte man das nennen. Nach vierundzwanzig Stunden trottete sie den Berg von Lindau aus hoch. Und alle Fragen, wo um Himmels willen sie gewesen war, wohin sie gewollt hatte, schüttelte sie ab wie eine kalte Dusche. Nur eine Frage beantwortete sie gnädig, wo sie geschlafen habe. In einer Scheune.
Sie aß nicht, was ihre Mutter kochte, kroch ins Bett und stellte sich schlafend. Kam sie die Treppe herunter mit abwesendem Gesichtsausdruck, war sie unfreundlich zu den Pfempfles. Auch von ihnen erwartete sie nichts Gutes. Kornitzer, der von Claire unterrichtet worden war, wie unwillig sich Selma jeder Bemühung zur Eingewöhnung entgegenstellte, kam, so oft er konnte, für ein Wochenende nach Bettnang. Er brachte Geschenke mit, Süßigkeiten, Schallplatten, und redete ihr gut zu, sich besser zu betragen. Und sie dachte, sie sei absichtlich böse, und das eigene Bösesein, in dem sie sich selbst nicht leiden konnte, machte sie unglücklich. Sie hörte ihre Eltern streiten, und sie wußte instinktiv, sie stritten sich ihretwegen.
Mit Mühe fand Claire heraus, daß sich in Selma über viele Jahre hinweg die Vorstellung gebildet hatte, ihre Mutter müsse tot sein, sonst hätte sie sich doch bei ihr gemeldet. Jetzt war sie, die Untote, eine falsche, verstörende, zu viel Raum einnehmende Gestalt. Den Vater dagegen wollte sie über alle die Jahre in ihrer Phantasie behalten. Und auch Mrs. Bosomworth, ihre zweite Pflegemutter, hatte Selma geholfen, die Erinnerung an den Vater wachzuhalten. Wie er mit einem weißen Schiff nach Kuba gefahren sei, komme er eines Tages zurück und hole sie ab, tröstete sie das Mädchen. Und Selma spann diese Vorstellung weiter, malte sie aus zu einem vollkommenen Tagtraum. Es war eine umgewidmete Phantasie vom weißen Ritter oder vom Prinzen, der sie heimholte oder entführte, das war gleichgültig. Wo er war, würde ihr Heim sein, er würde ihr ein Heim, ihrem unsicheren Leben einen Halt und einen Sinn geben. Verständlich war auch, daß in dieser heftigen Hoffnung auf die Rückkehr des Vaters die Mutter unbewußt geopfert werden mußte, damit sie, Selma, an die Stelle der Geliebten treten konnte. Und es gab auch noch eine andere Befriedigung in der Phantasie vom Vater, der mit einem weißen Schiff käme: er käme gewiß zu IHR. Es gab keine Konkurrentin, nirgendwo, er suchte sie, Selma, und keine andere, die Mutter war tot, sie, die Verlorene, die in Suffolk abgestellte Selma, war das Ziel seiner Wünsche. Und während andere Mädchen ihre heimlichen Prinzen- und Retterphantasien mit Zaudern und Zagen würzten (Werde ich erwählt, bin ich begehrenswert genug?), so war sie sich vollkommen sicher, ihr Vater käme ihretwegen nach England. Und es war gleichgültig, wie sie angezogen sein würde, ob sie aus dem Stall käme oder vom Feld mit schlammigen Schuhen und verschmierten Händen.
Und Claire erfuhr auch – nun ja, Richard half mit genauen, schon fast inquisitorischen Fragen –, wie die Stationen der Kinder in England verlaufen waren. Von der Sammelstelle des Kindertransportes holte sie ein älterer Reverend ab, ein freundlicher Mensch, der sie in ein von Ulmen umstandenes Pfarrhaus in Warwickshire brachte. Es war ein riesiges Haus mit einem verwunschenen Rosengarten. Der Pfarrer hatte die Entscheidung gefällt, den Siebenjährigen und die Vierjährige bei sich aufzunehmen, aber er hatte seine Entscheidung wohl nicht wirklich gründlich mit seiner kinderlosen Frau und deren ebenfalls im Haushalt lebenden Schwester besprochen. Es hätte ja ein Glück sein können für die beiden schon ältlichen Damen, an Georg und Selma Mutterstelle zu vertreten, jede nur eine Hälfte, eine geteilte Verantwortung, die jüngere sorgte für das Mädchen, die ältere für den Jungen. Was Richard aber aus Selma herausfragte, war eine Peinlichkeit. Die alten Jungfern (sagte sie
spinsters
oder
spectres
?, jedenfalls etwas sehr Despektierliches) hätten aber gar keine Vorstellung gehabt, was Kinder seien, sie
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