Landgericht
zehn Jahre lang die Beschämung mit sich herumgetragen, „böse“ gewesen und zur Bestrafung weggeschickt worden zu sein, weit weg. Und der Beschämung, „böse“ gewesen zu sein, folgte die Trauer. Georg, an den sie sich klammerte, hatte besser verstanden, warum die Eltern die Kinder nach England reisen ließen. Er sah den Funken von Zuversicht in dieser Planung, während die kleine Selma vollkommen im Dunklen tappte und auf den Bruder angewiesen war. Ja, für Selma (als sie die Katastrophe verstand) schien es besser, in einem Lager vernichtet worden zu sein als zu überleben. Sie schien sich der Rettung nicht würdig genug zu erweisen. Sie war böse, und dieses Selbstbild kränkte sie zusätzlich. Es war eine Spirale von Schuld. Und der Gedanke, daß ihre Tochter (und vielleicht auch der Sohn) heimlich die eigene Vernichtung gewünscht hätten, die nicht stattgefunden hatte, brachte die Eltern, als Selma stockend erzählte, zur Verzweiflung.
Auf den Streifzügen kamen die Kinder an das Themse-Ufer, planschten und schwammen. Das Wasser war trüb und hatte Schwebestoffe, aber es machte ihnen einen Riesenspaß. Niemand wies sie darauf hin, daß ihnen das verunreinigte Wasser gefährlich werden könnte. Sie besaßen auch keine Handtücher, stiegen naß in ihre Kleider. Wenn sie im Heim ankamen, waren sie getrocknet und starrten vor Schmutz. Prompt bekam Georg hohes Fieber, seine Haut wurde gelb, es war eine Hepatitis. Selma flehte die großen Mädchen an, einen Arzt zu holen, aber sie blieben unbeeindruckt, sie waren robust und wild, menschliche Schlingpflanzen, und kannten vermutlich keinen Arzt. Selma saß an Georgs Bett, las ihm, damit er nicht wegdämmerte, dieselben Geschichten vor, die er ihr früher vorgelesen hatte. Ja, sie hatte Angst, er würde vor ihren Augen sterben, denn er delirierte. Sie wußte sich nicht anders zu helfen, als seine heiße Stirn mit einem feuchten Lappen zu kühlen. Das tat ihm offensichtlich gut. Irgendwann kratzte Georg sein aufgeschnapptes Wissen zusammen und sagte:
An apple a day keeps the doctor away
. Für Selma war dieser Satz eine Offenbarung. Sie suchte in der Küche nach Äpfeln, es gab keine. Sie lief in die Geschäftsstraßen von Richmond, betrat Obstgeschäfte. Ja, es gab Äpfel, aber sie kosteten natürlich eine Stange Geld. Da entschloß sich Selma, ihren einzigen nennenswerten Besitz, ihre Puppe, mitzunehmen. Sie sprach Frauen mit kleinen Kindern an, ob sie ihre Puppe kaufen wollten, sie habe einen kranken Bruder, für den brauche sie Geld. Und wirklich, ein Kind faßte sofort nach der Puppe, und die Frau kaufte sie ihr ab. Selma schleppte die Äpfel ins Heim, versteckte sie, damit andere Kinder sie nicht naschten. Georg war so schwach, daß sie gar nicht wußte, ob er überhaupt einen Apfel halten und hineinbeißen konnte. Aber er aß die Äpfel nach und nach, langsam kaute er und schluckte. Es gab keinen Beweis, daß die Äpfel etwas bewirkten. Aber Selma hatte die Gewißheit, daß er unbedingt gesund werden wollte. Georg glaubte an die Äpfel, und Selma war stolz, daß sie ihrem großen Bruder glauben konnte. Es dauerte lange, bis er wieder auf die Beine kam, er war noch schwach, und er war äußerst hellhörig während der Krankheit geworden. Das dauernde Geschrei der kleinen Kinder drang ihm durch Mark und Bein.
In dieses Kinderchaos platzt Mrs. Bosomworth wie eine gütige Göttin. Sie ist eine Frau jenseits der fünfzig mit einem fülligen Körper und grauen Löckchen. Ihre Wangen sind rosa, und sie verfärben sich leicht ins Himbeerfarbene, wenn sie sich erregt. Und sie erregt sich sofort, als die Kinder ihr von den Läusen und ihrer Bekämpfung erzählen. Sie erregt sich weiterhin über den starrenden Schmutz und über den Mangel an Aufsicht, über das fahrlässige Behagen, mit dem die großen Mädchen „Mutter“ spielen. Aus Sympathie mit den jüngeren Kindern blendet sie die vollkommene Überforderung der größeren aus. Sie erregt sich auch über die Maßen, daß niemand Georg in seiner schweren Krankheit beigestanden hat, ja, sie kann es kaum fassen und lobt Selma, daß sie alles richtig gemacht hat, was Selma freut, als wäre sie in dieser Zeit eine kleine Doktorin gewesen. Sorgsam fragt sie und nimmt sich viel Zeit, und aus Georg und Selma tropfen die Beschämungen im Pfarrhaus und die Dürftigkeiten des Heims. Sie fragt nach Deutschland, nach den Erinnerungen an Berlin, noch nie hat jemand sich so intensiv mit ihnen beschäftigt. Die Reserviertheit
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