Landgericht
der Kinder schmilzt, Selma liebt Mrs. Bosomworth sofort. (Es ist wie ein automatisches Sehnen, das ein Ziel hat und sich gleichzeitig weitersehnt, in ein Zentrum hinein. Sie sieht das Rosafarbene, das Himbeerfarbene, ihr himmelblaues Lächeln und die Fältchen um ihre Augen, zwischen denen sie sich ganz, ja himmlisch geborgen fühlt.) Und dann fragt Mrs. Bosomworth die beiden, ob sie mitkommen und bei ihr bleiben wollen. Es folgt ein sprachloses Nicken über so viel unerwartete, beschämend großzügige Zuwendung. Die drei reisen nach Kent, Mrs. Bosomworth nimmt sie einfach mit ohne viel Aufhebens. Unterwegs mit den roten Bussen in London sehen sie die frischen Zerstörungen, Wunden in der glanzvollen Stadt, aber Mrs. Bosomworth verspricht ihnen, dort, wo sie hinführen, gäbe es keine deutschen Bomben, es sei friedlich und schön auf dem Land, und so bliebe es auch, sie brauchten keine Angst zu haben. Es ist eine sanfte, fröhliche Reise, Mrs. Bosomworth hat an Verpflegung gedacht, Obst und Würste, Eier, die sie gemeinsam pellen, die Schalen werfen sie aus dem Fenster hinaus in die Landschaft, da fliegen sie. Wiesenteppiche breiten sich aus, Baumreihen schnurren am Zugfenster entlang, bürsten den Himmel, sie sehen die milden Hügelchen. Mrs. Bosomworth erzählt, daß sie selbst fünf Kinder hat, darunter einen Jungen in Georgs Alter und ein Mädchen in Selmas Alter, es klingt wie im Märchen, und Mrs. Bosomworth ist von einer Wolke herabgestiegen und im
Hostel for Displaced Children
gelandet. (Daß die Quäker-Organisation, der Kornitzer und Claire die Kinder anvertraut hatten, in der Zwischenzeit lebhaft tätig war, um Mrs. Bosomworth als neue Pflegemutter auszusuchen, mußten sie sich bei Selmas Schilderung dazudenken.) Und das Märchen geht weiter. Seite für Seite blättert es Selma auf, Mr. Bosomworth, der sie herzlich begrüßt, ein ruhiger, starker Mann, der gewaltige Körbe mit Zwiebeln und Säcke mit Futter schultert, zwei große Töchter und John, der in seinem Zimmer Georg aufnimmt, und Frances, die für Selma Platz macht, und der kleine Guy, der erst sechs ist, alle sitzen sie am Tisch und sind fröhlich. Im Pfarrhaus hatten die Kinder werktags mit der Schwägerin des Reverend im Schulsaal gegessen, während der Reverend und seine Frau geruhsam im Eßzimmer speisten. Nur sonn- und feiertags gab es ein gemeinsames Essensritual.
Jetzt aus der Vergangenheit kommt Selma die große weitherzige Familie Bosomworth wie aus dem Bilderbuch vor, und sie selbst ist ein Teil dieses Bilderbuches, Darstellerin und Betrachterin zugleich, und sie ist stolz darauf. Die Bosomworth-Kinder sagen alle „danke“ und „bitte“, wenn die Platten und Schüsseln herumgereicht werden, ihre Mutter hält sie dazu an, nicht mit vollem Mund zu sprechen, und wenn sie etwas wissen wollen, wird es ihnen sorgsam erklärt. Die Bosomworth-Kinder sagen
Mummy
und
Daddy
zu ihren Eltern, und das hätten Georg und Selma am liebsten auch gleich getan. Aber Mrs. Bosomworth nimmt sich wieder Zeit für sie und weist sie darauf hin, daß sie doch Eltern haben, und daß es diesen Eltern sicher nicht recht sei, wenn sie eine andere Frau
Mummy
nennen. Sie schlägt Georg und Selma vor, sie könnten sie
Auntie
nennen, das wäre auch eine Vertrautheit. Aber das wollte Selma nicht, die Schwägerin des Reverend hatte ihr auch die Anrede
Auntie
angeboten, aber sie war keineswegs eine vertraute Gestalt geworden.
Auntie
wollten die Kinder in Erinnerung an die harte Zeit im Pfarrhaus niemals mehr jemanden nennen, man hätte sie dazu prügeln müssen, und das war nicht der Stil der Bosomworths. So blieb es formell bei der Anrede Mrs. and Mr. Bosomworth, was einen Schatten auf die Beziehung warf, aber auch Klarheit schaffte. Es mußte in Kuba einen
Daddy
geben, der zurückkäme, und es müßte irgendwo in Deutschland eine sehr verborgene, aber liebe
Mummy
geben, die mit den Flugzeugen und den Zerstörungen nichts zu tun habe (eben das glaubte Selma nicht), und irgendwann nach dem Krieg sähen die Kinder sie wieder, und die Eltern wären glücklich und sie auch, sagten Mr. und Mrs. Bosomworth den Kindern. (Kornitzer zuckte bei diesem Teil der Erzählung ein wenig zusammen.)
Die lebhafte Frances und die eher schwerfälllige Selma teilen nicht nur ein Zimmer miteinander, sie haben Geheimnisse vor den anderen, tauchen in eine Welt des Tuschelns und Giggelns. Mit einem Gummiband knoten sie sich die Beine zusammen, dreibeinig hüpfen sie durch die Gegend,
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