Landgericht
Und wenn sie etwas verstand, hatte sie einen teuflischen Plan: Sie wollte ihre Mutter vergiften. Dann wäre sie frei. Claire nahm die Pfanne und schüttete sie in den Abfall.
Zum ersten Mal in Bettnang weinte Selma. Claire hätte weinen wollen, aber es gelang ihr nicht. Drei Tage sprach sie nicht mit der Tochter, es war ihr einfach nicht möglich. Das war der Herbst.
Im Winter schneite es so heftig, wie Selma es noch nie hatte schneien gesehen. Halb Bettnang schnallte die Skier an, strömte auf die gleißenden Hänge. Die Pfempfle-Söhne nahmen sie mit, aber sie machten sich auch lustig über ihr schlechtes Deutsch, das so wenig Fortschritte zeigte. Und jeder Vierjährige stand nach ein paar Versuchen sicherer auf den Brettern als dieses große, kräftige Mädchen. Selma hatte in Suffolk auf den Teichen geschlittert und war Schlittschuh gefahren. So trieb Claire (wo, wo?) ein paar Schlittschuhe für sie auf, Selma fuhr mit dem Postbus nach Lindau, zog einsame Bahnen auf dem Eis und kam schweigsam, aber mit roten Backen nach Bettnang zurück. Sie war ein gefrorener Teich. Das war der Winter. Bei der Schneeschmelze, nach Besuchen hin und her zwischen Mainz und Bettnang, wurde der Versuch abgebrochen. Claire und Richard erlaubten ihrer Tochter, nach England zurückzukehren. Unter einer Bedingung: sie käme zusammen mit Georg in den Schulferien zu den Eltern. Das versprach Selma. Es war nicht einfach, die deutsche, minderjährige Staatsbürgerin wieder nach England einreisen zu lassen, eine Aufenthaltsbewilligung für sie zu erreichen, für ihren Unterhalt zu sorgen. Es war nicht einfach, die Tochter ein zweites Mal zu verlieren. Sie reiste allein, das trauten ihre Eltern der Fünfzehnjährigen zu. Es war kein Triumph, es war ein Desaster.
Aus dem Inneren
Kornitzer war hellhörig geworden. Nicht in sich selbst zu versinken, schien ihm eine gute Devise zu sein nach der Niederlage, die ihm seine Tochter beigebracht hatte. So empfand er es jedenfalls. Und Tätigsein half. Er stürzte sich in die Arbeit wie in einen Bottich mit kaltem Wasser. Er stürzte sich in die Arbeit wie in ein Messer. Er stürzte sich in die Arbeit wie ein Berserker, er trieb die Referendare, die Assessoren an, ihm zuzuarbeiten, sie wußten nicht, wie ihnen geschah, daß er so arbeitswütig war. Ja, er stürzte sich. Alles diente der Rechtsfindung. Selma hatte recht mit ihrem Widerstand dagegen, in Deutschland leben zu sollen, und Claire und er hatten recht mit dem Wunsch, die Lücke der Trennung zu schließen, die Wunde, die ihnen geschlagen worden war, zu heilen. Er mochte jetzt die langen Flure im Gebäude des Landgerichts, das Getrappel der Füße auf den Treppen, den Blick aus dem Sitzungssaal auf die Wüste, die die Zerstörung der Stadt offengelegt hatte, die abgeräumten Steinfelder und die aufragenden Mauerzähne, die Fensterhöhlen und ihr dramatisches Schweigen. Die Arbeit erdete. Er mochte die Wachtmeister, die mit sicherem Blick und Griff einen Angeklagten vorführten, er mochte die Wägelchen, auf denen die Aktenlast transportiert wurde, die langen Bänke im Flur, die nervöse Zeugen blank rutschten, er mochte das Funktionieren, das Reibungslose, mit dem Fälle aufgerollt und abgerollt wurden, das Ineinanderspielen der Kräfte, er mochte das Formulieren eines Urteils, die Klarheit. Die gegebene Ordnung und die Notwendigkeit, sich darin einzupassen, waren heilsam. (Hatten das auch die Juristen gedacht, die, anders als er, nicht aus dem Dienst gejagt wurden, die weitermachten, als sei nichts geschehen, die sogenannten „arischen“ Juristen?, schoß es ihm manchmal durch den Kopf, und der Kopf schmerzte.) Ja, er mochte auch die eigene Strukturiertheit, die von Fall zu Fall arbeitete, Fälle abarbeitete, es war eine Genugtuung zu arbeiten. Tatbestandsvoraussetzungen, Einwände, Erläuterungen, Problemfälle, Fristen und Fristverlängerungen, Urteile. Das Zivilrecht war ein Florett, wie Feuer und Schwert kam ihm dagegen das Strafrecht vor. Er mochte Feinheiten, Kniffe, die Suche nach Referenzurteilen. Er war in seinem Element. Er dachte an Selma, die gekommen war, an Georg (George), den man mit Engelszungen locken mußte, die nierenkranke Frau, die ihm Schuldgefühle machte, was ihn beschämte, aber den Kontakt nicht wirklich erleichterte. Er kehrte zu den lösbaren Fällen auf seinem Tisch zurück.
Die Untergrabung der Regeln, nach denen er operierte, wollte er gar nicht mehr in Betracht ziehen, ihre Zertrümmerung in Berlin, ihre
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