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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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zu einem Psychiater. Der unterhielt sich lange mit Georg und empfahl dann, Georg solle besser in einer Gegend leben, in der keine V2 zu erwarten waren, in der er den Konflikt, zwischen Deutschland und Großbritannien zu stehen, nicht so stark empfinden würde. Es wurde ein Platz in der Midhurst Grammar School gefunden, deren Direktor dafür bekannt war, gut mit schwierigen Kindern umzugehen, und es wurde auch eine Familie in der Nähe gefunden, die Georg aufnahm. Von dieser Familie wußte Selma nichts zu erzählen, wahrscheinlich hatte Georg auch kaum etwas erzählt. Selma sprach über die Trennung von ihrem Bruder in einem gänzlich resignierten Ton; etwas brach ab.
    Nach dem Kriegsende hatten die Bosomworths die Freude an ihrem Haus verloren, sie wollten möglichst weit weg, weit von der Erinnerung an die V2, der dauernden Angst, eine Rakete könnte das Haus treffen. Sie entschieden sich, nach Sansibar auszuwandern. Das Haus wurde verkauft, und für Selma wurde ein Platz in Suffolk gefunden: bei den Hales. Sie war jetzt so gedemütigt, daß sie jede Veränderung in ihrem Leben fraglos akzeptiert hätte. Frances schrieb ihr, sogar häufig, schickte viele bunte Briefmarken und die herzlichsten Grüße aus Sansibar. Sie war einfach ein sonniges Mädchen. Aber dann war es doch gut bei den Hales, und als das Ehepaar merkte, wie sehr sie ihren Bruder vermißte, nahmen sie auch Georg auf, der seine Krise überwunden hatte.
    Es fiel Kornitzer schwer, Selma zu glauben. Übertrieb sie nicht maßlos, malte sie nicht alles schwarz, was auch grau oder in Pastelltönen hätte skizziert werden können? Er schrieb an Georg, fragte nach, das große wichtige Wort dieses Briefes war
really
. Und gleichzeitig fürchtete er ein wenig, daß die Kinder sich über diesen Brief austauschen würden, daß Selma vom Bruder erführe, der Vater sei mißtrauisch und wolle sich versichern, aber Georg bestätigte alle Angaben. Kornitzer weiß, er kränkt die Tochter, die sich unverstanden fühlt, ein weiteres Mal, indem er ihr nicht glauben will. Er will sich ihr nähern durch sein Wissenwollen und hält sie gleichzeitig in der Distanz des Zweifels. Als habe sie sich auf dem Land, im Umgang mit Tieren und Heu und Getreide eine blühende Phantasie angeeignet. Und Georg schreibt zurück, freundlich und ruhig, ja, er schreibt sehr nett an die ihm fremd gewordenen
parents
. Alles, was Selma erzählt hat, was an Erzählbrocken aus ihr herausgeschleudert worden ist, sei wahr. Aber Georg sah es nüchterner, es sei ja nun vorbei, und es ließe sich ja auch nicht mehr ändern.
Spilt milk
. Er lebe gerne bei den Hales und wolle zu seinem 18. Geburtstag die englische Staatsbürgerschaft beantragen. Adoptiert werden wolle er nicht. Es sei
not necessary
. (War das eine Geste der Bescheidenheit oder auch eine Resignation? Oder wollte er möglichst rasch sein eigener Herr sein und nach allen Wechseln der Aufenthaltsorte und der Pflegefamilien früh unabhängig werden?) Und er unterschrieb seinen Brief:
George
.
    Kornitzer zeigt den Brief Claire, als er nach Bettnang kommt, stippt mit dem Finger auf das End-E. George, George, so heißen Könige, unser Sohn nicht. Aber Claire, die ihm den Brief aus der Hand nimmt und ebenfalls auf die Unterschrift starrt, läßt den Brief wieder sinken und macht eine so trostlose Handbewegung, daß Kornitzer seine Erregung wie einen Feuerwerkskörper im feuchten Nebel verzischen sieht. Und als er am Abend noch einmal über den Vorgang nachsinnt, kann er Claire nicht recht geben und sich selbst in seiner Verletztheit nicht trauen, und er weiß nicht, was schlimmer ist. Er fährt zurück nach Mainz, er hat Mitleid mit der Tochter, aber auch Mitleid mit sich selbst, daß er der Tochter nicht wirklich nahe kommt und dem Sohn erst recht nicht.
    Einmal möchte Selma auch nett sein, ihrer Mutter etwas Liebes tun, wie sie sich um Mrs. Bosomworth bemüht hat, wie sie sich bei Mrs. Hales gut beträgt. Von ihren Streunereien durch die Wiesen und Wälder bringt sie Pilze mit, sie kennt sich aus, sie hat mit den großen Bosomworth-Mädchen Pilze gesammelt. Sie putzt sie und schmurgelt sie in der Pfanne, als Claire aus der Molkerei kommt. Und sie hatte auch die deutschen Wörter gelernt. Maronenröhrling, Wiesenchampignon. Aber Claire freute sich nicht, sie sah in die Pfanne, sah die strahlende Selma, und auf einmal geriet sie in Panik. Sie, die Berlinerin, verstand nichts von Pilzen, und sie nahm auch an, daß Selma nichts von Pilzen verstand.

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