Landgericht
seinen Laptop heranzog und die Finger über der Tastatur schweben ließ. »Am 14. Juni ging um 23 Uhr 50 die Meldung beim Polizeinotruf ein, dass sich am Bahnhof in Gertenbeck am See ein Übergriff auf einen Fahrgast ereignet habe. Ein offenbar tödlicher Übergriff, wie es hieß. Etwa fünfzehn Minuten nach Eingang der Meldung trafen Notarzt und die örtliche Schutzpolizei ein. Die Kollegen der Schutzpolizei sicherten den Tatort und nahmen die Personalien der Zeugen auf. Ich wurde dann ebenfalls verständigt, gegen Viertel nach zwölf. Etwa um ein Uhr war ich am Bahnhof. Das Gelände war da schon weiträumig abgesperrt. Der Notarzt hat mich über den Tod des Opfers in Kenntnis gesetzt. Anscheinend war jede Hilfe zu spät gekommen.«
Hambrock dachte an den übernächtigten Mittdreißiger mit dem Arztkoffer, der völlig verloren am Bahnsteig stand und dort auf ihn wartete. Irgendein junger Bereitschaftsarzt, der nicht viel Erfahrung mit solchen Gewalttaten hatte und sich verstört an einem dampfenden Kaffeebecher festhielt.
»Der Notarzt zeigte sich schockiert über die Brutalität, mit der die Täter vorgegangen waren«, fuhr Hambrock fort. »Es gab Knochenbrüche im Brust- und Schulterbereich. Zahlreiche Hämatome an Beinen und Oberkörper, dazu eine Reihe von Schürfwunden. Am massivsten aber waren die Kopfverletzungen. Der Notarzt musste einen Nasenbeinbruch, einen Kieferbruch und eine Fraktur des Gesichtsschädels feststellen.«
Ein leises Schluchzen drang aus dem Zuschauerbereich. Im Augenwinkel sah Hambrock, wie eine Gestalt in einem hellen Trenchcoat und mit langer dunkler Mähne zum Ausgang lief und durch die Tür verschwand. Die Mundwinkel der Richterin sackten herab. Normalerweise riet sie Angehörigen, den Saal zu verlassen, wenn bei einer Befragung besonders schmerzliche Einzelheiten zu erwarten waren. Hambrock war offenbar zu sehr in medizinische Details gegangen. Er wollte sich zurückhalten. Die Rechtsmedizinerin würde ohnehin noch gehört werden.
»Der Notarzt vermutete einen Schädelbasisbruch«, beendete er die Ausführungen. »Allerdings konnte das erst durch die Obduktion bestätigt werden. Das Opfer muss bereits am Boden gelegen haben, als sich der Hauptteil der Gewalt entlud. Erst da wurden die Tritte auf den Kopf des Opfers abgegeben.«
Hambrock erinnerte sich, wie fassungslos der Notarzt gewesen war. »Wir sind doch hier nicht in Berlin! Ich bin in Gertenbeck aufgewachsen, verstehen Sie? Das ist mein Dorf! So etwas passiert hier nicht. Die Gertenbecker sind so nicht.« Hambrock hatte geschwiegen. Wer ist schon so?, hatte er sich gefragt.
»Wenn Sie mir eine persönliche Bemerkung gestatten«, sagte Hambrock zur Richterin. »Ich bin seit über zwanzig Jahren im Polizeidienst, aber eine so enthemmte Gewalttat habe ich in dieser Zeit noch nicht erlebt. Besonders erschreckend finde ich, dass es offenbar keinen nennenswerten Anlass gegeben hat.«
Sein Blick wanderte zur Anklagebank. Die Jugendlichen sahen aus, als würden sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Nur der Haupttäter, ein auffallend hübscher Junge mit blonden Engelshaaren, der den tödlichen Tritt abgegeben hatte, sah mit festem Blick zur Decke. Das war schon in den Vernehmungen so gewesen. Zuerst hatte er sich geweigert, mit der Polizei zu sprechen, obwohl die anderen beiden längst geständig waren. Und auch danach hatte er sich einsilbig und wenig kooperativ gegeben. Er schien einen dicken Panzer um sich errichtet zu haben. Aber vielleicht war das nur ein Schutzmechanismus.
»Waren die Angeklagten zu diesem Zeitpunkt schon in Polizeigewahrsam?«, fragte die Richterin und blätterte in einer Akte. »Soweit ich weiß, waren sie bereits aufgegriffen worden, als Sie den Tatort in Gertenbeck erreichten.«
»Das stimmt. Es gab Zeugen, die die jungen Männer genau beschreiben konnten. Eine Polizeistreife hat sie kurz darauf am Gertenbecker Marktplatz aufgegriffen. Nach ihrer Flucht vom Bahnhof hatten sie dort am Brunnen Wodka getrunken. Als sie die Polizeifahrzeuge entdeckten, versuchten sie zu fliehen. Aber weit kamen sie nicht. Anfangs haben sie alles abgestritten. Danach die Aussage verweigert. Aber mithilfe der Augenzeugen konnten sie schnell als Täter identifiziert werden. Es gab ein Handyvideo von der Tat. Einer der Zeugen hat ein paar Sekunden lang mitgefilmt.«
»Ein Handyvideo? Haben wir das bei den Beweismitteln?«, fragte die Richterin und blätterte in den Unterlagen. »Ach ja, hier ist es. Das schauen wir uns
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