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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht
Autoren: Stefan Holtkoetter
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ihn zu. Ehe Marius reagieren konnte, stieß er ihm mit voller Wucht das Knie in den Bauch. Marius krümmte sich, taumelte, würgte.
    Er blinzelte und sah zu dem Jungen hoch. Warum trat dieser Idiot noch einmal nach? Er hatte doch längst gewonnen. Der Jugendliche starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Wilder Hass flackerte darin. Mordlust. Ein kaltes Gefühl bemächtigte sich seiner. Er begriff: Es ging gar nicht darum, einen Streit mit einem Faustschlag zu beenden. Hier brach sich etwas anderes Bahn.
    Die drei tänzelten um ihn herum, hellwach, konzentriert, angespannt. Sie ließen sich von ihren Instinkten leiten. Ein Tritt, und er ging zu Boden. Über ihm das Gesicht des engelsgleichen Jungen, das völlig verzerrt war und trotzdem auf irritierende Weise immer noch unschuldig aussah. Ein weiterer Tritt in den Magen, und er verlor für einen Sekundenbruchteil das Bewusstsein. Marius spürte die nackte Angst. Für seinen nächsten Tritt nahm der Bauernjunge Anlauf. Wieder explodierten die Schmerzen. Rippenknochen brachen. Marius jaulte auf. Da waren doch noch andere Leute. Die mussten sehen, was hier passierte. Einer musste ihm helfen.
    Er versuchte, seinen Kopf mit den Armen zu schützen. Aber es war schon zu spät. Der Streber mit der Brille stellte sich über ihn, hob ein Bein und trat ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Sein Kiefer brach knirschend, das Gesicht schien sich zu verformen. Er spürte nichts mehr. Seine Gedanken sprangen wild herum. Irgendwie musste es ihm gelingen zu fliehen. Er begriff nicht, was passierte. Jemand musste ihm helfen. Bitte.
    Der hübsche Junge war wieder an der Reihe. Er nahm Anlauf und holte aus, als wollte er einen Elfmeter schießen. Marius sah, wie der Turnschuh auf ihn zuschnellte. Dann wurde es dunkel.

2
    Sonnenstrahlen fielen durch die gläserne Dachkonstruktion in den Lichthof. Spiegelungen entstanden und Palmenfächer warfen fleckige Muster auf den hellen Steinboden. Es war ganz still in der Haupthalle des Landgerichts. Momentan liefen überall Verhandlungen, und die Flure waren menschenleer. Eine Atmosphäre wie in einem Gymnasium während der Klausurtage.
    Bernhard Hambrock saß auf einer Bank unterhalb einer Birkenfeige und wartete. Er schloss die Augen und döste ein wenig.
    Mehr als zweihundert Überstunden hatten sich in den vergangenen Monaten angehäuft. Besonders in den letzten zwei Wochen war die Hölle los gewesen. Da hatte er kaum noch Schlaf bekommen. Doch nun schien endlich Ruhe im Präsidium eingekehrt zu sein. Seit Tagen war nichts Neues mehr reingekommen, und gestern hatten sie den letzten aktuellen Fall an die Staatsanwaltschaft übergeben. In den nächsten Tagen würde er ein paar Überstunden abfeiern. Mal wieder ausschlafen und ein bisschen Freizeit haben. Die Hälfte seines Teams würde es genauso machen. Er musste nur noch diesen Gerichtstermin hinter sich bringen, danach könnte er endlich ausspannen.
    Der letzte Fall steckte ihm noch in den Knochen. Da war es um den Mord an einer arbeitslosen Frau im Münsteraner Problembezirk Coerde gegangen. Sie hatten den Ehemann im Verdacht gehabt, einen cholerischen und gewalttätigen Alkoholiker. Doch der hatte ein Alibi, sein Kumpel schwor Stein und Bein, die beiden hätten sich zur Tatzeit in seiner Wohnung am anderen Ende der Stadt DVDs angesehen. Sogar Zeugen gab es. Und so hatten sich die Ermittlungen immer weiter in die Länge gezogen, bis sich am Ende herausstellte, dass der Kumpel gelogen und die Zeugen nicht den Verdächtigen, sondern jemand anderen in der Wohnung gesehen hatten. Aber so war das häufig: Der erste Verdacht war der richtige, doch dann tauchten widersprüchliche Indizien auf, seine Leute ermittelten in alle möglichen Richtungen, nur um am Ende doch wieder zum Erstverdacht zurückzukommen, der sich schließlich als richtig herausstellte. Was für eine Zeitverschwendung das manchmal war.
    Als sie diesen Ehemann festgenommen hatten, war da noch ein Junge gewesen, das Kind der beiden, Fabio, gerade vierzehn Jahre alt. Was für ein Schicksal, hatte Hambrock gedacht. Die Mutter erschlagen und der Vater unter Anklage, und dann bist du plötzlich allein auf der Welt. Nachdem der Vater abgeführt worden war, hatte Hambrock mit Fabio in der verdreckten Küche gesessen. Sie hatten miteinander geredet. Fabio sollte zu seiner Oma väterlicherseits, die in derselben Hochhaussiedlung lebte und ihn nur äußerst widerwillig aufnahm. »Das Kind hätte damals abgetrieben werden sollen«, war ihr
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