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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Holtkoetter
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Keine von den typischen Campustussis, die er regelmäßig abschleppte: blonde, gestylte Frauen aus wohlhabenden Familien. Frauen mit perfekten Körpern, mit Einserzeugnissen, Praktika in den USA und schicken, teuer eingerichteten Studentenwohnungen. Frauen, für die Marius perfekt ins Portfolio passte: Unternehmersohn mit blendend gutem Aussehen. Manchmal fragte er sich, wer eigentlich wen flachlegte.
    Er hatte einen gewissen Ruf auf dem Campus. Ein Herzensbrecher, ein einsamer Cowboy, unnahbar und geheimnisvoll. Es gab Frauen, für die es eine sportliche Herausforderung war, ihn zu knacken und für sich zu gewinnen. Die wenigen Male, bei denen er sich allerdings auf eine Beziehung eingelassen hatte, war er kurz darauf von den Frauen sitzen gelassen worden. Offenbar war der Schein vielversprechender.
    Marius legte die Stirn an die kühlende Scheibe. Sie hatten die Stadt verlassen und fuhren durchs Münsterland. Wallhecken und Pappelalleen, Wiesen und Weizenfelder, und hinter allem die blutrote Sonne, die langsam am Horizont verschwand.
    Bei Nathalie hatte er tatsächlich nicht landen können. Nicht, dass er es nicht versucht hätte. Aber sie war keine dieser Frauen, die ihm nachliefen. Auch war sie keine von denen, die spröde und abweisend auf ihn reagierten, nur um zu kaschieren, dass sie insgeheim von ihm erobert werden wollten. Im Gegenteil. Sein Aussehen, sein Charme, die ganzen Tricks, die er draufhatte, das alles schien Nathalie vielmehr zu amüsieren. Sie lachte unentwegt, strich sich dabei durch ihre Afrofrisur, und nicht selten hatte er das Gefühl, sie lachte ihn aus. Überhaupt war es schwer zu sagen, ob er bei ihr gerade Eindruck schindete oder sich zum Affen machte. Es war verwirrend. Und sehr anziehend.
    Im Durcheinander der Party hatten sie sich schließlich aus den Augen verloren, und später hieß es, Nathalie sei gegangen. Marius hatte danach keine Lust mehr gehabt, sein Glück bei einer anderen Frau zu versuchen. Er hatte sich einfach nach allen Regeln der Kunst volllaufen lassen und war schließlich in der Wohnung seines Kumpels gelandet.
    Da war ein seltsames Gefühl. Als würde er beobachtet. Er sah auf. Am anderen Ende des Großraumabteils saß ein Mann auf einem Klappsitz und starrte herüber. Ein bulliger Typ mit einem von Aknenarben zerfurchten Gesicht. Er erinnerte Marius an einen grobschlächtigen Marine aus einem amerikanischen Film. Das kantige Gesicht, der düstere Blick, einfach alles. Marius fühlte sich unwohl. Was glotzte der so?
    Eine Erkennungsmelodie ertönte, dann sagte eine Computerstimme die nächste Station an. Der bullige Typ stand auf und steuerte die Türen an. Offenbar hatte er das Interesse an Marius verloren. Der Zug verlangsamte das Tempo und fuhr in den kleinen Bahnhof ein. Der Marine stieg aus und verschwand. Marius sah sich um. Die Jugendlichen, die den Gothic-Typen verjagt hatten, waren ebenfalls fort. Offenbar unterwegs ausgestiegen, ohne dass er es bemerkt hatte. Der Junge mit der schwarzen Kutte hockte etwas entfernt auf einem Klappsitz. Seine Haare verdeckten wieder das Gesicht, und er hatte eine bemüht lässige Pose eingenommen.
    Marius betrachtete ihn nachdenklich. Er wusste genau, wie es sich anfühlte, weggestoßen zu werden. Sich nicht wehren zu können und Demütigungen zu ertragen. Es war ein klebriges Gefühl, das einen nach und nach von innen einkleisterte. Marius fiel scheinbar alles zu. Da waren sein sicheres Auftreten, sein gutes Aussehen. Er war ein Gewinnertyp. Aber das war nur der Schein. Sein Innenleben war ein anderes.
    Die Sonne war nun am Horizont verschwunden. Draußen schimmerte zwischen den Bäumen das Wasser einer Seenlandschaft. Wieder ertönte eine Stimme aus den Lautsprechern. Die nächste Station wäre Gertenbeck. Sein Bahnhof. Er nahm seine Tasche und stand auf.
    Der Zug wurde langsamer und hielt. Auf dem Weg zu den auseinandergleitenden Türen ließ er den Blick durch den Waggon schweifen. Plötzlich sah er sie. In der hintersten Sitzgruppe. Schwarze Locken, eine hohe Stirn, kluge Augen und eine Haut wie Milchkaffee.
    Nathalie.
    Sie blickte auf und entdeckte ihn ebenfalls. Überraschung trat in ihr Gesicht. Offenbar hatte sie ihn nicht vergessen.
    »Hallo«, sagte sie. »Marius, oder?«
    Er war völlig durcheinander. Wahrscheinlich waren sie beide in Münster in denselben Wagen gestiegen, ohne einander bemerkt zu haben.
    »Hallo, Nathalie. Hast du die ganze Zeit dort gesessen?«
    Eine blöde Frage. Doch perplex wie er war, fiel

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