Landleben
ein
Alkoholproblem nachgesagt wurde. Er fand Trost in der
kleinen alten Dame, die ihre Brille an einer Kordel um den
vom Kropf geschwollenen Hals trug und, hinter einem ver-
gitterten Fenster im Rathaus, den Betrag der monatlichen
Stromrechnung entgegennahm, und in dem Postboten,
Mr. Bingham, der mit dem Heroismus des weit verbreite-
ten Reklamespruchs der Post zweimal am Tag die Mifflin
Avenue rauf- und runterstapfte, in einem leichten Win-
kel von dem Gewicht seines Lederbeutels weggebeugt,
in dem manchmal Mickey-Mouse-Comics und Dekodie-
rungsringe und signierte Fotos von Filmstars für Owen ein-
trafen. Wenn sein diffuses Kindheitsglück sich zu einem
einzigen Moment destillieren ließe, dann wäre es der Tag
des Schneesturms, bald nach Weihnachten – nachmittags,
draußen war es schon dunkel unter der Wolkendecke, La-
metta und trockene Tannennadeln rieselten im Wohnzim-
mer vom Baum auf die Miniaturlandschaft darunter, die er
und seine Mutter gebastelt hatten: Watte und Luxfiocken
als Schnee, Zahnstocher in grün angemalten Schwamm-
stückchen als Bäume und als Behausungen fertig gekaufte,
fragile Pappmache-Häuser, um einen fleckigen Spiegel als
See angeordnet. Auf der ovalen dreispurigen Schienen-
strecke fuhr sein kleiner blauer Lionel-Zug mit seinen
sich gehorsam verändernden Geschwindigkeiten und dem
durchsichtigen Geruch von Schmieröl. Plötzlich – ein Ge-
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räusch, das Owen elektrisierte – verkündet das Klappern
des Briefkastenschlitzes, dass Mr. Bingham sich durch den
Schneesturm gekämpft und, zum zweiten Mal an diesem
Tag, die Post gebracht hat. Dass bei dem Schneesturm
Postboten unterwegs waren und Straßenbahnen ratterten,
schien die hollywoodsche Comic-Strip-Version der ame-
rikanischen Wirklichkeit zu bestätigen: Wir waren so si-
cher und wurden so liebevoll von oben betrachtet wie die
kleinen, niemals alternden Figuren in
er
ein geschüttelten
Schneekugel.
Nur wenig höher angesiedelt als die Verwalter der
Ordnung im Ort waren die nationalen Berühmtheiten.
Sie waren sogar zugänglicher und vertrauter: Jack Ben-
ny und Fibber McGee, die in dem kleinen Philco-Radio
im Klavierzimmer ihre Witze rissen und ihre peinlichen
Situationen bestanden, gleich neben dem Sessel mit den
speckigen Armlehnen, wo Owen Cracker mit Erdnussbut-
ter aß, doppelt verzückt vom Lachen und Kauen; Tyrone
Power mit schwarzen, sorgenvoll zusammengezogenen
Augenbrauen und Joan Crawford, deren riesige dunkle
Lippen tapfer bebten, während in jedem ihrer vergrößer-
ten Augen eine Träne schwamm, die einen Eimer füllen
würde, auf der Leinwand im Scheherazade; die Schrift-
steller in Tweed, an ihren Pfeifen nuckelnd, und die be-
brillten Erfinder in Laborkitteln und die geschniegelt fri-
sierten Schickeria-Leute in den Glamourblättern Life und
Liberty, Collier’s und The Saturday Evening Post, die auf dem
hohen hölzernen Gestell in Eberly’s Drug Store standen
und von jedem, der einen Dime hatte, käuflich erworben
werden konnten. Es gab eine Freundlichkeit, ein Gefühl
der Nähe, wie sich dieses Firmament über Willow und sein
Tal breitete. In den Stimmen von Bing Crosby und Lowell
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Thomas und Kate Smith schwang nichts von den schroffen
Forderungen realer Stimmen mit – denen seiner Mutter,
seiner Lehrer, der albernden Mädchen –, und doch lebten
diese Berühmtheiten, den Drehbüchern der Radio-Come-
dies nach zu urteilen, ähnliche Leben wie wir, gingen zur
Bank und zum Zahnarzt. Jack Benny ging sogar zu seinem
Nachbarn, um sich eine Tasse Zucker von Ronald Colman
auszuleihen. Obwohl der ganze Kontinent dazwischen lag,
nahmen diese Stars an dem Leben teil, das hier gelebt wur-
de, in Owens Nachbarschaft mit den schmalen Veranden
und den buckligen Stützmauern. Es gab keine bessere
Art zu leben, es gab kein großartigeres, kein tugendhafte-
res Land als Amerika und keinen heimeligeren Staat als
Pennsylvania. Gott figurierte ganz oben, der unvorstellbare
Schlussstein, doch in barmherzig großer Ferne, weiter weg
als Hollywood und Beverly Hills.
«Da bist du ja», sagt er zu seiner Frau, als er das «Hier»
dechiffriert und sie leibhaftig – das weiß gesträhnte Haar,
die blauen Flip-Flops – draußen auf der Veranda gefunden
hat, wo sie die New York Times liest.
Er besteht darauf, den Boston Globe zu lesen – auch das
eine Nichtübereinstimmung. «Ich hatte einen höchst selt-
samen Traum», fängt er an. « u
D
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