Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Landleben

Landleben

Titel: Landleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
Vom Netzwerk:
an.
    Stürze.
    Zerbrechlichkeit.
    Wenn
    ein
    aufdringlicher
    Fremder oder ein Psychiater Owen gefragt hätte, warum
    er Julia so sehr liebte, hätte er womöglich einen erotischen
    Moment hervorgekramt, der sich ein paar Jahre zuvor er-
    geben hatte, in der Genesungszeit, nachdem sie sich das
    Bein gebrochen hatte – einen Knochen im Fußgelenk und
    einen weiteren im Fuß –, als sie ihn auf der hinteren Trep-
    pe überholen wollte. Er hatte sie hinter sich gespürt, wie
    ein Raubtier auf Verfolgungsjagd, ungeduldig schnaubend,
    dann hörte er das scharfe, einsilbige: « Oh! », und sie flog
    in die Luft – ausgerutscht auf dem schmalsten Stück der
    dreieckigen, mit Teppich belegten Stufe in ihren neuen,
    glatten Schuhen mit dem durchbrochenen Oberleder. Eine
    Sekunde lang flog sie durch die Luft, sauste an ihm vorbei,
    perspektivisch verkürzt, wie ein Engel, der mit seiner Ver-
    kündigung zur Erde niederschwebt, und dann landete sie
    auf dem Teppich im Flur und blieb dort reglos liegen. Er
    eilte zu ihr, mit einem Pochen in der Brust. Eine plötzliche
    Katastrophe auf des Lebens Bühne: Was war seine Rolle?
    Julia sagte leise, während ihr zweiter Ehemann ängstlich
    Über ihr kniete: «Ich habe zweimal ein Knacken gehört.
    Knackknack.» Diese präzise Angabe inmitten einer Notla-
    ge – so war Julia: praktisch, sachlich. Während sie da lag

    53
    und ihr still gewordenes Profil zeigte und er hilflos neben
    ihr kniete und das enorme Ausmaß dieses jähen häuslichen
    Ereignisses in sich einsinken ließ, fragte sie: «Könntest du
    mir den Pullover ausziehen? Vorsichtig.» Sie fügte hinzu:
    «Mir ist heiß. Ich glaube, ich werde ohnmächtig.»
    «Was sollen wir tun?», fragte er sie.
    Sie schwieg, als wäre sie ohnmächtig geworden.
    Da er notgedrungen die Dinge in die Hand nehmen
    musste, sagte er zu ihr: «Wir müssen dich ins Kranken-
    haus bringen. Kannst du auf einem Bein hüpfen, wenn du
    dich an meiner Schulter festhältst?» Sie schafften es zum
    Auto, zur Notaufnahme des Krankenhauses, wo eine grobe
    Schiene gefertigt wurde, und am nächsten Tag zum eine
    Stunde Fahrt entfernten Massachusetts General Hospital
    in Boston.
    In dem Monat danach schliefen sie nicht miteinander,
    doch er zeigte seine Liebe, so sah er es, indem er ihr Es-
    sen brachte, das er zubereitet hatte, indem er lernte, sich
    um die Wäsche und das Kochen zu kümmern, indem er
    Backgammon mit ihr spielte und abends mit ihr fernsah.
    Nach dem Monat waren sie sich einig, dass sie wieder ver-
    suchen sollten, miteinander zu schlafen, obwohl sie unge-
    fährdet reglos unter ihm liegen und er auf ihre genesenden
    Knochen achten musste. Im Mass. General hatte man ihr
    keinen Gipsverband gemacht, sondern ihr, nach der neues-
    ten Behandlungsmode, einen Plastikstiefel verordnet – ein
    bisschen wie Raumfahrttechnik, sich überlappendes Grau
    und Blau, mit einer gerillten Sohle, gekurvt wie ein Schau-
    kelstuhl. Man konnte ihn kurz ausziehen, musste ihn aber
    bei etwas Anstrengendem wie Ficken anbehalten. Er ver-
    suchte, auf Ellbogen und Knien gestützt über ihr zu schwe-
    ben und ihr so viel wie möglich von seinem Gewicht zu
    54
    ersparen, und zu seiner dankbaren Überraschung spürte er,
    wie sie sich ihm in ihrer Erregung entgegenhob, schneller
    als sonst, und entschlossen ihr Schambein an seinem rieb,
    und sie kamen zusammen – juwelenhafte Libellen, die
    sich in der Luft paarten. Atemlos danach sah Julia ihn aus
    dem Kopfkissen mit dem milchigen Ausdruck der Zufrie-
    denheit an, der einen Mann, für einen Moment, mit dem
    Universum in E
    n
    inkla g versetzt; alle Schulden sind begli-
    chen, alle Sorgen als nichtig entlarvt.
    Vielleicht hatte es an dem Stiefel gelegen. In den ers-
    ten Wintern in diesem ungenügend geheizten Holzhaus,
    das vor einem Jahrhundert als Sommerhaus gebaut worden
    war, hatte es sie beide erregt, wenn sie ihre Wollsocken an-
    behielt. Sie war damit irgendwie nackter, und nicht weni-
    ger nackt. Mann und Frau waren politisch verschiedener
    Meinung, und sie litten häufig unter einer Diskrepanz von
    Vorurteilen, aber eine Übereinstimmung in ihrem Nerven-
    system sorgte für Ausgleich. Julia stammte von der Küs-
    te Connecticuts und war «privilegiert» aufgewachsen. Sie
    fuhr mit einem MG-Cabrio zu einer Privatschule, durch
    eine Reihe von grünen Vororten und über eine Reihe von
    Eisenbrücken. An ihrer Schule gab es kein Basketball-
    Team und kein Football-Team, die Hauptsportarten waren
    Tennis, Golf

Weitere Kostenlose Bücher