Landleben
nie irgend-
welche Post brachte, nur die Altoner Morgenzeitung, de-
ren Nachrichten bereits veraltet waren, und Mitteilungen
von der Freimaurerloge in Willow, der er in seiner Blütezeit
angehört hatte, als er neu in der Stadt und ein wichtiger In-
vestor im Ort gewesen war. Im vergangenen Sommer hatte
seine Tochter ihn an einem Samstag zur Beerdigung seines
letzten alten Freundes aus den Zeiten des Wohlstands nach
Willow gefahren; beide, Vater und Tochter, hatten bei ihrer
Rückkehr Tränen in den Augen, was Owen mit Verwun-
derung wahrnahm – juwelenartige Trophäen aus der Welt
«des Aufzubewahrenden», wo Pistolenschüsse hallten und
Pferde in Panik zurück in ihren brennenden Stall liefen und
das zweite Gesetz der Thermodynamik alle Umkehrungen
zu einem Zustand von geringerer Unordnung unterband.
Wieder in Cambridge, nun im zweiten Studienjahr, fühl-
te er sich weniger eingeengt – er kannte sich jetzt aus. Im
September wagte er sich über den Fluss, um die Braves
gegen die Phillies spielen zu sehen; er war auf der Seite
der Phillies, behielt das aber für sich in der hemdsärme-
ligen Menge, deren dürftige Zahl schon den Wechsel des
Unternehmens binnen eines Jahres nach Milwaukee an-kündigte. Die symmetrischen Ligen seiner Jugend, mit je-
weils acht Vereinen, die er für ähnlich unverrückbar gehal-
ten hatte wie die Zehn Gebote, fingen an, sich kreuz und
quer durchs Land zu bewegen. An einem Freitagabend
im November nahmen er und ein Rudel von fünf anderen
künftigen Ingenieuren die Subway bis Kendall, gingen die
Cambridge Street rauf zum Old Howard am Scollay Square,
das es auch bald nicht mehr geben sollte. Vor einem etwas
zynischen, rein männlichen Publikum, Matrosen und Ar-
beitern und College-Studenten, lief eine glitzernde Frau
mit einer Hochfrisur von unwahrscheinlichem Zimtrot in
immer weniger Kleidern auf und ab, bis sie schließlich auf
einer samtbezogenen Chaiselongue landete und die Beine
in die Luft stieß – eine hinreichende Pantomime eines Or-
gasmus, bei der im Orchestergraben die Trommeln dröhn-
ten. Unter der grellen Bühnenbeleuchtung absolvierten
abgenutzte, halb belustigte Frauen Routinenummern, die
Owen keineswegs langweilig vorkamen; mit Federboas, in
außergewöhnlichen Ballkleidern, in Wespentaillenkorsetts
und mit getuschten Strumpfbändern und Satinschühchen
mit hohen Absätzen, hatten diese Frauen das reine Leben
von Träumen, Träumen, die aus den Tiefen des eigenen
Ichs emporstiegen, phantastische Zurschaustellungen des-
sen, was am Ende am wahrsten war.
Zartgefühl und Witz, charakteristisch für Neuengland,
lockerten auf, was in Pennsylvania, in den Bordellen und
Spelunken der Industriestädte, eine trübe, talgige, etwas
ranzige Schwere hatte. Hier oben, wo die Puritaner in wei-
ßen Kirchtürmen und einer adretten Backsteinarchitek-
tur ihre Spuren hinterlassen hatten, wurde Sex trickreich
verkleidet, wenn nicht völlig verbannt. Bostons hoch ent-
wickelte bürgerliche Moral schrieb gewisse Grenzen der Bekleidung vor. Pasties auf den Brustwarzen, die Scham
bedeckende Strings, blockhohe Absätze, Diademe, grell
geschminkte Gesichter – all dies milderte die schlichte,
schimmernde Nacktheit, die Elsie ihm in ihrer Unschuld
eines Abends angeboten hatte. Nacktheit, so schien Neu-
england zu sagen, war etwas zu Ernstes, zu Verletzliches, als
dass sie als Ware gehandelt werden durfte; nur Göttinnen
in Marmor oder Mutter Eva durften sie in mäßigen Kupfer-
stichen zur Schau stellen. Im Untergrund gab es Männer-
filme, die in Verbindungshäusern unter halb beklomme-
nem Hohngelächter vorgeführt wurden, mit Schauspielern
und Schauspielerinnen, deren erschlaffte, dickbäuchige,
schmachtende und impotente Menschlichkeit den verächt-
lichen Spott der Zuschauer hervorrief, wie jung und uner-
fahren sie auch waren.
In seinem zweiten Studienjahr dann, nach einem Som-
mer mit dem Vermessungstrupp und einigen wenigen
unbefriedigenden Verabredungen mit Elsie, die zurück-
haltender war und mit sich geizte, seit sie das Penn State
College besuchte, kehrte Owen in seinen Tagträumen zu
Phyllis zurück, ohne dass er je ein Wort mit ihr gewechselt
hätte. Allerdings erschien sie in einem Seminar, an dem
auch er teilnahm, Einführung in die Kodierung und Logik
digitaler Computer:
Überblick über die Prinzipien des logischen Aufbaus
und der Elemente der Kodierungsprogramme für digi-
tale Großcomputer, aus der Perspektive des Benutzers
betrachtet. Kurze Beschreibungen der
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