Landluft für Anfänger 01: Großstadtmädchen haben's schwer
ja, alles, was kürzer als fünf Sekunden auf dem Boden lag, kann man noch essen, heißt es. Also aufkratzen. Oh je. Das ist bestimmt meine Mutter. Dazu hab ich jetzt keinen Nerv. Laura könnte mal zurückrufen. Matti ist auch nicht da, arbeitet seinen Nachfolger ein. An seine Abwesenheit muss ich mich wohl gewöhnen. Na, wenigstens kann ich jetzt die zweite Staffel von Girls streamen, ohne dass er mir mit geistigem Eigentum kommt! Das wäre ja Diebstahl, und dumm außerdem, schließlich würde ich ja selbst im Kreativsektor arbeiten – bla, bla … So. Gabel, Messer, Laptop … Oh je, David ist auf Skype online. Mia, jetzt schalt mal ab. Besser ich mach gleich noch den Wein auf, als Seelentröster.
20:45. Büro Neuberger & Neuberger
Habe im Internat angerufen. Fabienne war einsilbig.
»Ja?«
»Hallo Fabienne. Hier ist deine … Hier ist Mama.«
»Ja. Was willst du?«
»Schön wäre, wenn du mal so was wie,Hallo Mama’ sagen könntest.«
Schweigen am anderen Ende der Leitung. Seufzen an meinem.
»Wie war Mathe?«
Pause. Dann: »Wieso?«
»Wieso,wieso’? Heißt das, du konntest es nicht?«
»Kann dir doch egal sein.«
»Es ist mir aber nicht egal, Fabienne. Ganz und gar nicht egal. Immerhin geht es hier um deine …«
»Boah, Mama, du nervst!« Klick. Aufgelegt.
Jedes Mal, wenn ich mit meiner Tochter spreche, fühle ich mich wie ein Seeungeheuer. Eins mit eitrigen Pocken, von denen sie fürchtet, sie könnten ihr entgegenplatzen, wenn sie auch nur ein Wort zu viel mit mir spricht. Am Telefon kann ich Fabiennes Gesicht nicht sehen, aber ich kann hören, wie sie guckt und die Augen verdreht. Sie hält mich seit ungefähr zwei Jahren für eine Scheiß-Mutter. Natürlich muss das so sein. Fabienne ist sechzehn. In diesem Alter müssen Kinder ihre Eltern entthronen. Aber manchmal frage ich mich, ob meine Tochter es damit nicht etwas übertreibt. Mama meint, Fabienne fühlt sich abgeschoben. Sie fand es nicht gut, dass wir sie auf ein Internat geschickt haben. Aber, Entschuldigung, Fabienne kann doch von Glück sagen, dass sie auf diese Schule gehen darf. Erstklassiges Internat bei London. Sieht aus wie Hogwarts! Kosten: 80 000 Euro im Jahr. Hier hat sie die neunte Klasse geschafft, allerdings nur mit Mühe und Not. Und das liegt nicht daran, dass sie nicht schlau wäre. Reine Leistungsverweigerung. Dass sie mit ihrer Aufmachung (schwarze Kajalbalken, zerrissene Netzstrümpfe mit viel zu kurzem Rock, die Haare gestylt wie ein Wischmopp auf Drogen) überhaupt einen Platz auf so einer guten Schule bekommen hat, verdanken wir nur unseren guten Beziehungen zu den richtigen Leuten. Ich bin von diesem Internat überzeugt. Die kriegen sie in den Griff, ohne dabei Magengeschwüre zu bekommen. Fabienne wird dort weniger Ablenkung haben. Und weniger Gras! Was soll denn sonst aus ihr werden? »Ja, was denn?! Denkst du, ich will so werden wie du?! Wann hast du zuletzt in den Spiegel geschaut?!«, hat sie kürzlich charmanterweise zu mir gesagt. Aber Geld braucht sie schon, für alles Mögliche. Ich frage mich, ob ihr klar ist, dass man es nicht illegal auf dem Balkon anbauen kann.
Es soll ja sinnvoll sein, dass Kinder in der Pubertät so unausstehlich werden. Eltern finden sie dann nämlich so zum Kotzen, dass sie sie leichter loslassen können. Sie leiden dann weniger darunter, dass ihre Schützlinge erwachsen werden. Hab ich mal gelesen. Apropos erwachsen. Mia muss doch auch schon über dreißig sein. Vielleicht hält sie es ja mal für angebracht, ans Telefon zu gehen.
21.00. Mias WG. Wieder auf der Toilette
Schon wieder das Telefon! Verdammt, kann man nicht ein Mal … Wenn das jetzt David … Bitte, lass es David sein! Bitte, bitte, David, hab nachgedacht und sei zu der Überzeugung gekommen, dass du mich doch zu gern hast, um länger sauer auf mich zu sein! (Aua. Jetzt bin ich über meine heruntergezogene Hose gestolpert. Also wirklich, Mia. Wenn dich jemand sieht.) Wo ist denn jetzt das Telefon überhaupt? Ach, wahrscheinlich noch in der Küche. Bitte nicht auflegen! Ich bin schon fast da! Shit, war nicht schnell genug. Soll ich zurückrufen? Hm. Unbekannte Nummer. Schon wieder. David ruft nie mit unterdrückter Nummer an. Aber wenn er’s jetzt doch war? Was mach ich denn jetzt?
21:31. Nur noch im Büro von Iris brennt Licht.
Natürlich war sie nicht zu erreichen. Hängt bestimmt in einem dieser lauten Berliner Wummer-Clubs rum. Am Wochenanfang! Ganz schön still hier. Und ganz schön kalt, irgendwie
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