Landluft für Anfänger 01: Großstadtmädchen haben's schwer
eigentlich klar ist, dass sie bei den kurzen Momenten des Hallo- und Auf-Wiedersehen-Sagens jedes Mal ihre eigene Kompetenz in Frage stellen, weil wir dann einen kurzen Einblick in IHRE menschlichen Unzulänglichkeiten bekommen?
10:05. Berlin. U-Bahn, Linie 2
Puh. Ich könnte direkt wieder ins Bett. Ich sollte meine Therapie dringend auf den Abend verlegen, das macht doch keinen Sinn, um kurz nach zehn von den eigenen Urängsten gebeutelt und emotional ausgelaugt im Büro aufzuschlagen. Umso besser, dass ich mich heute im Intranet für ‚Home office’ eingetragen habe. Dann muss ich auch David nicht sehen, außerdem spare ich mir zwei Mal Umsteigen. Unglaublich, dass sie mir jetzt schon zum dritten Mal das Fahrrad geklaut haben. Selbst Kinderwägen werden hier in Hausfluren angeschlossen, mit dem Erfolg, dass sie nun einfach angezündet statt weggeschleppt werden. Am Helmholtzplatz ist deswegen vor Kurzem fast mal ein Haus abgebrannt. In was für einer Welt leben wir eigentlich?!
»Sie haben eine neue Nachricht. Erste Nachricht …«
Albern, jetzt habe ich schon wieder Herzklopfen. Mann, Mia, es kann sich doch nicht alles in deinem Leben um diesen Typen drehen … Ist es … Äh, nein … Das klingt eher wie die Mitteilung einer Außerirdischen mit Bronchitis: »Rausch, rausch, rausch, krtz krtz krtz, Schrieb bekommen, krtz krtz rausch, ruf zurück, krtz rausch, Freitag in Berlin, krtz krtz piiiiiiiiep (Aua!), Nummer, krtz rausch, krtz null drei. Neuberger Consulting Frankfurt.« Wer ist Neuberger Consulting? Bestimmt verwählt. Nummer: unbekannt. Sind die das, die mich seit ein paar Tagen terrorisieren?
»Bitte alle aussteigen. U-Bahn endet hier. Zur Weiterfahrt steigen Sie bitte in den Wagen am Bahnsteig gegenüber …« Na, super.
Dafür kommen wir in den Genuss einer Vorstellung ‚Dorfmädchen in der Großstadt’. Versucht die doch tatsächlich den Junkie zu wecken, damit er das Umsteigen nicht verpasst.
»Entschuldigen Sie, hier ist Endstation … (Er macht die Augen auf.) Sie müssen umsteigen, da drüben.« (Sie zeigt auf den anderen Bahnsteig.) – »Geh scheißen.« (Augen wieder zu.)
Ja, wie gesagt, hier in Berlin steht Nächstenliebe hoch im Kurs.
16:30. Berlin. Mias Küche. Home office
Ups. Stimmt. Ich hatte versprochen, mich für das Cover-Shooting um eine Assistenz zu kümmern, die Aufhelllicht und Bounceboard hält. Verpeilt. Ist jetzt aber auch kein Grund, gleich so ausfällig zu werden, Zicke von Fotografin. Tut ihren Fotos ja vielleicht mal ganz gut, so steril wie die sonst sind. Manchmal frage ich mich wirklich, warum ich diesen Job mache. Ich bin kein Organisationstalent, hasse telefonieren und male und bastle am liebsten selbst. (Deswegen sitze ich auch in der Küche, die Matti immer aufräumt. Auf dem Tisch in meinem Zimmer müsste ich erst eine Fläche für den Computer freischaufeln.) Außerdem war das von Patrick, als er mir den Job vor einem Jahr schmackhaft gemacht hat, doch eine gnadenlose Untertreibung: »Ein bisschen Archiv musst du auch machen.« Seit DREI Wochen bin ich mit der »Verschlagwortung des stetig wachsenden Bildbestandes« beschäftigt. Kotz. Ich weiß echt nicht, ob ich ein weiteres Jahr durchhalte. Aber klar, wovon sonst leben. Und wer kündigt schon freiwillig bei PINK! Und verpasst Events wie dieses:
www.facebook.com/events
PINK created an event: Halfway through the week-Party.
Going: 45 (unter anderem David)
Shit, dafür wollte ich doch noch Ohrringe zum neu erstandenen Kleid kaufen. Das schieb ich schnell dazwischen. Brauch jetzt eh mal `ne Pause.
17:45
Shit, die Strumpfhose hat ja total Laufmaschen! Das hätt ich mal checken sollen, bevor ich in die Stadt bin. Die Dinger von dm halten doch erfahrungsgemäß nie länger als einen Abend. Jetzt muss ich noch mal los. Ob ich kurz Mattis Fahrrad …?
19:30
Puh. Vollkommen verschwitzt. Scheiß vierter Stock. Mit Arbeit brauch ich jetzt nicht mehr anzufangen, hab auch total Kohldampf. Aber: Hat sich gelohnt, hab bei H&M noch Schnäppchen gemacht. Wahrscheinlich Frustkauf wegen der schockierenden Spiegel in der Umkleide. Hab ich echt so schlimme Cellulitis? Denke mal, das liegt an dem fiesen Licht. Oder muss ich etwa doch langsam mit Sport anfangen? Uähh.
20:30. »On the road« auf dem Frankfurter Lerchesberg
Ich liebe es, wenn der Schweiß rinnt. Da spürt man förmlich, wie die Pfunde schmelzen. Und die Aggressionen … Aber langsam, Iris, immer schön aerob laufen. Nur so verbrennt man richtig.
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