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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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ich wegging, er hätte mich gerne behalten, obwohl ich gewiss nicht sein bester Lehrling war. Ich hatte eben andere Qualitäten, die dem Alten wichtiger waren.
    Herrn Leberecht hatte ich im Kurhaus kennen gelernt, als ich mit den anderen Lehrlingen das Bergfest feierte, also die überstandene Hälfte der Lehrzeit. Er war damals immer wieder an unseren Tisch gekommen, um mich um einen Tanz zu bitten. Die anderen Lehrlinge machten ihre Witze über uns, weil er schon alt war und eine Halbglatze hatte, doch ich habe viermal mit ihm getanzt, und er blieb manierlich und begann nicht zu grapschen wie die jungen Kerle. Außerdem tanzte er sehr gut, er konnte Walzer rechts- und linksrum und sogar Tango und hoppelte nicht irgendwie über die Tanzfläche wie die meisten Männer, wobei man nie sicher war, ob sie einem nicht auf die Füße treten, weil sie allein darauf achteten, möglichst eng umschlungen über das Parkett zu schieben. Herr Leberecht tanzte richtig mit abgewinkeltem Arm und durchgedrücktem Rücken, wie wir es in der Tanzstunde gelernt hatten, und er machte auch Konversation, während die Jungen schweigend und schwitzend tanzten und allenfalls die Melodie mitsummten oder den Schlagertext sangen. Herr Leberecht erzählte, dass er beim Rat der Stadt arbeitet und dort für Gesundheit, Familie, Jugend und Sport zuständig ist, was ein sehr großes und besonders wichtiges Ressort ist. Er fragte, wo ich arbeite, und sagte dann, dass Gärtnerin der schönste Beruf für eine Frau ist und er sich immer gewünscht hat, dass seine Frau einen solch schönen Beruf ausübt, doch sie ist dafür leidervöllig unbegabt, und sie leben kaum zusammen, da sie immerzu zu ihrer kranken Mutter fährt, die in Halle lebt. Als ich ihm sagte, dass ich hoffe, nach der Lehre etwas Interessanteres zu machen, versprach er mir, mich dabei zu unterstützen. Ich soll ihn im Rathaus aufsuchen, er denke, er hat vielleicht etwas für mich.
    Ich bin gleich in der darauf folgenden Woche bei ihm erschienen, und er bot mir Kaffee und Kekse an, als ob ich ein wichtiger Besucher bin. Wir haben uns dann eine Stunde unterhalten, und er fragte mich regelrecht aus und nach den merkwürdigsten Dingen, weil er feststellen musste, ob ich für ihn und die Position, die er für mich vorgesehen hat, geeignet bin. Ich musste ab und zu bei ihm erscheinen und mich mit ihm unterhalten, aber er bestellte mich nie abends zu sich oder an verfängliche Orte, und er wurde nie zudringlich und nannte mich immer Fräulein Hollenbach. Wenn wir uns verabschiedeten, küsste er mich auf beide Wangen, und mehr war damals nie zwischen uns.
    Vier Monate vor meiner Abschlussprüfung bot er mir die Leitung vom Haus der Jugend an, und ich griff sofort zu. Ich hatte vier Zirkel zu betreuen und musste an den Abenden, an denen die Räume für die Jugendlichen geöffnet waren, die Aufsicht machen. Dann gab es die Wandzeitung, die ich alle zwei, drei Wochen zu aktualisieren hatte und die Versammlungen, zu denen ich einladen musste und bei denen ich darauf zu achten hatte, dass keiner politische Dummheiten redet. Da ich abends länger zu tun hatte, begann mein Dienst erst um zehn, und das war mir sehr lieb, denn ich schlief gern aus.
    Einmal im Monat musste ich bei Herrn Leberecht erscheinen, um ihm Bericht zu erstatten, es gab nie Schwierigkeiten, und er war zufrieden mit mir. Und jedes Jahr musste ich für eine Woche zur Weiterbildung fahren, die in einem Erholungsheim der Kreisleitung stattfand. Einmal fuhr ich gemeinsam mit Herrn Leberecht zu diesem Lehrgang undhabe mit ihm geschlafen, das war meine eigene Entscheidung. Er hat mich zu nichts gedrängt, obwohl er schon seit unserem Tanz im Kurhaus scharf auf mich war, und am nächsten Morgen beim Frühstück war er so höflich wie vorher und sagte weiter Sie zu mir und Fräulein Hollenbach.
    Das Beste an der Arbeit im Haus der Jugend waren die Gespräche mit den Kindern. Ich hatte sie bald für mich eingenommen, und sie kamen mit jedem Quark zu mir und erzählten mir all das, was sie nicht mit ihren Eltern oder Lehrern bereden können. Ich war für sie die Tante, der sie ihren Liebeskummer erzählen konnten, und ich hörte ihnen aufmerksam zu, wenn sie mir von ihren Geschichten und unlösbaren Problemen berichteten. Sie waren nur ein paar Jahre jünger als ich, aber sie waren die reinsten Kinder, und was sie mir erzählten, ich hätte mich kugeln können vor Lachen, doch ich hörte ihnen zu, ohne eine Miene zu verziehen, und sagte ihnen

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