Landnahme
anschließend ganz ernsthaft, was sie tun sollen. Tante Kathis Kummerbriefkasten. Ich half den Kindern sogar, als sie wirkliche Probleme bekamen. Zwei Sechzehnjährige wurden in meiner Zeit im Jugendclub schwanger, und ich konnte ihnen die richtigen Adressen geben. Und als einer meiner Jungen wegen Kellereinbrüchen vor dem Jugendgericht landete, fuhr ich in die Kreisstadt und gab vor Gericht eine Bürgschaft für ihn ab, so dass er mit einer Bewährungsstrafe glimpflich davonkam und nicht in einem der gefürchteten Jugendwerkhöfe landete.
Zwei Jahre nach Babsys Besuch in unserer Stadt heirateten Rieke und Bernhard. Bernhard hatte sein Karussellgeschäft aufgegeben und sich in Guldenberg eine Werkstatt gekauft. Er musste mit dem Karussell massenhaft Geld verdient haben. Als ich ihn einmal danach fragte, lachte er und sagte, er werde es mir eines Tages einmal erzählen.
»Irgendwann«, sagte er. Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Irgendwann einmal oder auch nie. Denn das Wichtigstean einem Geschäft ist immer die Verschwiegenheit, Kathi.«
Jedenfalls hatte Bernhard die modernste Tischlerwerkstatt in Guldenberg. Die Maschinen waren alle neu oder fast neu, und er hatte in der Werkstatt sogar einen riesigen Absauger für das Sägemehl, was kein anderer der Tischler besaß. Da Bernhard damals noch nicht seine Meisterprüfung gemacht hatte und darum vom Rat der Stadt und der Handwerkskammer für eine eigene Werkstatt keinen Gewerbeschein bekommen konnte, holte er sich einen Kollegen, der bereits Meister war, und ließ seine Werkstatt in den ersten vier Jahren unter dessen Namen laufen. Als er selber seinen Meister hatte, ich hatte Guldenberg längst verlassen und lebte in Leipzig, besaß er die größte Tischlerei am Ort mit fünf Gesellen, da die Werkstatt von Tischler Beuchler abgebrannt war.
Rieke war selig, als sie heirateten. Bernhard war ihr Ein und Alles, und was immer er sagte oder machte, sie nickte sofort und tat, was er verlangte. Ich glaube, Rieke brauchte keinen Fernseher, ihr reichte es aus, den ganzen Abend lang ihren Bernhard anzuschauen, das war für sie das Allerschönste.
Geheiratet wurde im Haus der Eltern, in Spora. Mutter war sehr stolz auf ihren Schwiegersohn, weil er ein gemachter Mann war und einen eigenen Betrieb besaß. Für ihre Töchter hatte sie sich genau so einen Mann gewünscht, einen, der auf eigenen Füßen steht und sein Geld nicht in der Landwirtschaft verdient, denn davor wollte sie ihre Kinder bewahren. Es war eine große Hochzeit, eine richtige Hollenbachsche Großbauernhochzeit wie im vorigen Jahrhundert. Vater hatte die Scheune ausgeräumt und Tische aufgestellt. Mutter und vier Nachbarinnen hatten drei Tage lang gekocht, um die achtzig Gäste anständig bewirten zu können, und Bertels, der einbeinige Buchhalter von der Genossenschaft, spielte den ganzen Abend lang auf dem Schifferklavier.Ich war allein nach Spora gefahren, da ich meinen damaligen Freund nicht meinen Eltern vorzeigen konnte. Ich hatte ihn in meinem Jugendclub kennen gelernt, und er war erst siebzehn, also ein ganzes Stück jünger als ich, und das hätte meine Eltern beunruhigt. Mutter hatte Frieder, einen Cousin, als meinen Tischnachbarn bestimmt. An seiner Seite ging ich hinter dem Brautpaar und den Eltern in die Kirche, denn in unserem Dorf heirateten alle kirchlich, und ich saß den ganzen Abend neben ihm und musste mit ihm tanzen. Ich verstand mich mit Frieder gut, und nach diesem Abend war ich wieder einmal heilfroh, rechtzeitig aus Spora verschwunden zu sein. Mit dem Bräutigam habe ich auch getanzt. Ich musste ihn auffordern, denn Bernhard vermied es, mich anzufassen oder allein in meiner Nähe zu sein. Er hatte Angst vor mir, der Süße, er hatte so viel Angst, dass ich ihn nie wieder dazu bringen konnte, mit mir noch einmal so ein hübsches Stündchen zu verbringen wie damals.
In der Zeit, die ich in Guldenberg lebte, habe ich Rieke und Bernhard selten gesehen, eigentlich nur zu den Geburtstagen oder wenn die Eltern zu Besuch kamen. Rieke lud mich zwar immer wieder ein, besonders nachdem sie die große Villa bezogen hatten, die für Rieke der absolute Gipfel, das vollkommene Glück ihres Lebens mit Bernhard war, doch ich vermied es, sie zu besuchen. Es war mir zu langweilig bei ihnen. Alles war dort geputzt und gewienert, auf den Tischen lagen Spitzendeckchen, und die Gardinen wusch Rieke sicher jede Woche einmal. Bei Rieke hatte ich das Gefühl, mich entschuldigen zu müssen, wenn ich mich
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